Polen: Glauben in einer polarisierten Gesellschaft

28. Jul. 2023

Die lutherische Gemeinde in Krakau ist eine der ältesten der Welt. Sie wurde kurz nach der Reformation gegründet und blickt auf eine lange Geschichte zurück. Pfarrer Łukasz Ostruszka über Kirchesein in der heutigen polnischen Gesellschaft in einem Minderheitskontext. 

Rev. Łukasz Ostruszka

Łukasz Ostruszka ist der Pfarrer der Evangelisch-Augsburgischen (Lutherischen) Gemeinde in Krakau. Foto: LWB/Albin Hillert

Interview mit Łukasz Ostruszka, Pfarrer der Evangelisch-Augsburgischen Kirche in Polen 

Die Evangelisch-Augsburgische (Lutherische) Gemeinde in Krakau wurde schon zur Reformationszeit gegründet und blickt somit auf eine lange Geschichte zurück. Derzeit beherbergt die Kirchengemeinde Flüchtlinge aus der Ukraine sowie das LWB-Vollversammlungsbüro. 

Łukasz Ostruszka ist seit Oktober 2021 Pastor der Gemeinde. Er spricht über die Aufgabe, in der heutigen polnischen Gesellschaft Kirche zu sein, über die Aufnahme von ukrainischen Flüchtlingen und wie sich die Kirchengemeinde auf die bevorstehende Dreizehnte Vollversammlung  des Lutherischen Weltbunds (LWB) vorbereitet. 

Erzählen Sie uns doch bitte etwas über Ihre Kirchengemeinde. 

In unserer Gemeinde sind wir rund 700 Leute. Die Gemeinde gibt es schon seit 1557. Die Reformation kam nach Krakau kurz nachdem Martin Luther seine 95 Thesen veröffentlicht hatte. Im Mittelalter war Krakau die Hauptstadt von Polen und eine Universitätsstadt, deshalb verbreitete sich die Reformation hier schnell.

Unsere erste Kirche wurde während der Gegenreformation am Ende des 16. Jahrhunderts zerstört. Danach übte die protestantische Kirche zwei Jahrhunderte lang ihr reguläres Leben außerhalb von Krakau aus. Erst 1816 übergaben die städtischen Behörden die St. Martinskirche wieder an die lutherische Gemeinde.

Heute sind wir eine kleine, aber sehr aktive und lebendige Gemeinschaft. Hier in Krakau konzentrieren wir uns hauptsächlich auf die Arbeit mit Kindern. Wir haben drei Gruppen während der Sonntagsgottesdienste und in einer von ihnen arbeiten wir mit der Godly Play-Methode, einer Art religiöser Montessori.

Ein weiterer Schwerpunkt ist die Arbeit mit Menschen, die evangelisch werden wollen. Viele Menschen möchten mehr über unseren Glauben erfahren. Wir sind eine wachsende Gemeinschaft, und jedes Jahr entdecken viele Menschen ihre Spiritualität in unserer Gemeinde. Das ist eine freudige Herausforderung und ein Segen für uns.

Darüber hinaus haben wir einen Chor, Jugend- und Studierendengruppen und Treffen, die sich mit der Bibel, der evangelischen Theologie und dem Gebet beschäftigen. Aber natürlich sind die Sonntagsgottesdienste das Wichtigste für uns. Unser Ziel ist es, das Evangelium zu verkünden und Menschen in Not zu helfen.

Polen erlebte Jahrzehnte kommunistischer Herrschaft und Säkularismus. Wie hat sich das auf das religiöse Leben ausgewirkt?

In der Zeit des Kommunismus engagierte sich die römisch-katholische Kirche stark in der Opposition gegen die Machthaber. Das ist zum Teil der Grund, warum ältere Menschen der römisch-katholischen Kirche zugetan sind. Heute wollen viele jüngere Menschen etwas anderes finden. Es gibt in Krakau so viele Möglichkeiten, Gott zu verehren, und ich denke, das ist okay und wunderbar, denn es ist ökumenisch.

Manche finden ihren Platz in Pfingstkirchen, Baptisten oder Freikirchen, aber wir sind auch eine interessante Alternative. Das Wichtigste in unserer Gemeinde ist, dass wir für Diskussionen über viele Themen offen sind. Es gibt nicht die eine Ansicht, der alle zustimmen müssen, sondern jede Person kann sich eine eigene Meinung bilden.

Die Mitglieder unserer Gemeinde vertreten unterschiedliche Standpunkte – von eher konservativ und traditionell über gemäßigt bis hin zu liberal. Wir versuchen, eine Gemeinschaft zu schaffen, in der unterschiedliche Ansichten nebeneinander bestehen können – geleitet von der Liebe Gottes. Diskussion und Toleranz sind seit Jahrhunderten die Säulen unserer Gemeinde. Das ist etwas Schönes, das wir nie vergessen sollten.

Können Sie das weiter ausführen? 

In unserer Kirche ist das Wichtigste, dass sich jeder Mensch auf die Liebe Gottes verlässt, die ihm in Jesus Christus geschenkt wurde und die ihm als moralischer Kompass für seine täglichen Entscheidungen dient.

Im Jahr 2020 verabschiedete die polnische Regierung ein Gesetz, das die Abtreibung verbietet. Das löste landesweite Proteste zur Verteidigung von Frauenrechten aus. Unsere Kirche befürwortet Abtreibung nicht, aber wir glauben, dass jeder Mensch das Recht hat, selbst zu entscheiden. Die Menschen sollten ihre Entscheidungen auf der Grundlage dessen treffen, was sie durch ihren Glauben gelernt haben.

Die Position der lutherischen Kirche ist es, jeden Fall individuell zu betrachten und mit allen Menschen im Umfeld der schwangeren Frau in Kontakt zu sein. Wir wollen die Frau nicht für die schwierige Situation, in der sie sich befindet, bestrafen. Die Hauptaufgabe der Kirche ist es, alle Menschen auf der Suche nach Erlösung zu unterstützen, indem wir Liebe und Fürsorge statt Hass und Ausgrenzung vermitteln.

Ein anderes Beispiel: Die Menschen in unserer Kirche haben unterschiedliche Meinungen zur Homosexualität, aber wir sind dagegen, dass Menschen aus irgendeinem Grund verfolgt werden. Unsere Kirche hat diese Haltung nachdrücklich vertreten.

Zurzeit beherbergt Ihre Gemeinde Flüchtlinge. Wie viele Menschen sind das, und wie verändert sich dadurch das Leben in Ihrer Kirche? 

Wir sind die größte Stadt auf dem Weg von der Ukraine in andere Teile Polens oder in andere Länder. Der Kirchengemeinderat beschloss, unsere Gemeinderäume in eine Unterkunft für Flüchtlinge umzuwandeln. Wir bieten Platz für Frauen und Kinder und haben seit Beginn des Krieges über 100 Menschen beherbergt. Manchen blieben einen Monat bei uns, andere sind noch immer hier. Einige gingen zurück in die Ukraine oder zogen weiter in andere Länder. Wir versorgten diese Menschen mit Lebensmitteln, Rechtsberatung, Berufsberatung und täglicher Hilfe. 

Jetzt gerade haben wir nur acht Leute in unserem Zentrum. Wir mussten einfach da sein und helfen, aber ich möchte auch nicht, dass die Flüchtlinge zu sehr von Hilfe abhängig werden. Hier können die Menschen unabhängig leben, Arbeit finden, die Kinder können in Krakau zur Schule gehen, und sie müssen sich in die Gesellschaft integrieren. 

Wir haben die ukrainischen Flüchtlinge nie gezwungen, mit uns zur Kirche zu gehen, doch viele von ihnen schienen ganz froh zu sein, dass sie mit der Gemeinde zusammen den Gottesdienst feiern können. Inmitten der ganzen Tragödie war es für unsere Gemeinde auch eine wundervolle Erfahrung, denn die Leute wollten helfen und etwas für andere tun. Das lehrte uns etwas über Zusammenarbeit und zeigte uns, wie glücklich wir uns schätzen dürfen, dass wir in einem sicheren Land leben.

Aktuell ist bei Ihnen das LWB-Vollversammlungsbüro untergebracht. Was bedeutet die Vollversammlung für Sie?

Sie stellt eine ganz ausgezeichnete Gelegenheit dar, um Menschen lutherischen Glaubens aus der ganzen Welt zu treffen und viele verschiedene Arten des Luthertums kennenzulernen. Wir müssen unserer örtlichen Gemeinde zeigen, dass wir nicht alleine sind. Ja, wir sind eine Minderheit, aber während der Vollversammlung werden wir eine Mehrheit sein. Wir möchten zeigen, dass Luthertum eine ganz gewöhnliche Konfession ist, denn manchmal halten uns die Leute für exotisch. 

Wie bereiten Sie sich in Ihrer Kirchengemeinde auf die Vollversammlung vor? 

Unsere Kirchengemeinde hat eine Debatte, Konzerte und eine Ausstellung im Freien vorbereitet. Während der Vollversammlung werden wir auch eine offene Kirche haben. Ja, wir möchten jeden Tag für Besucherinnen und Besucher zur Verfügung stehen. 

Wenn die Delegierten in ihre Heimatländer zurückkehren, was wünschen Sie sich, dass sie aus Polen und von den polnischen Menschen lutherischen Glaubens mitnehmen? 

Ich möchte allen Menschen in den anderen Kirchen zeigen, dass es in einer Gesellschaft, die eine Menge Polarisierung erlebt, möglich ist, eine Minderheit zu sein und trotzdem den Glauben auszudrücken.

Gegenwärtig neigt die Welt dazu, sich einzuengen, sich in Gemeinden abzuschotten, die kein Verständnis für andere aufbringen wollen. Ich möchte zeigen, dass es möglich ist, offen und gastfreundlich zu sein. Ich versuche das hier in Krakau, in einem lokalen Kontext, zu zeigen, doch das ist auch überall sonst auf der Welt möglich

LWB/C. Kästner-Meyer, A. Weyermüller