Estland: Die Kirche als Schatz für kommende Generationen

9. Sep. 2022

Im Interview spricht LWB-Vizepräsident Urmas Viilma über seine Kindheit im sowjetisch besetzten Estland, seine Entdeckung des christlichen Glaubens und seinen Weg zum jüngsten Kirchenleitenden in der Region.

LWB-Vizepräsident Urmas Viilma bei der Ratstagung 2022 in Genf. Foto: LWB/M. Renaux

LWB-Vizepräsident Urmas Viilma bei der Ratstagung 2022 in Genf. Foto: LWB/M. Renaux

LWB-Vizepräsident Urmas Viilma im Interview

(LWI) – Als Estland im Sommer 1991 seine Unabhängigkeit von der Sowjetunion erklärte, war Urmas Viilma ein begeisterter Student von 17 Jahren, der gerade die Schule abgeschlossen hatte und plante, am Theologischen Institut in Tallinn zu studieren, um Pfarrer zu werden. Als er im Bus saß und auf dem Weg zu seinen Aufnahmeprüfungen durch die leeren Straßen der Hauptstadt fuhr, überkam ihn die überraschende Erkenntnis, dass sowohl er als auch sein Heimatland nun frei waren, ihre Zukunft selbst zu bestimmen.

„Angesichts eines neuen Abschnitts in meinem Leben“, schrieb er zum 30. Jahrestag der Unabhängigkeit Estlands, „erkannte ich mit überraschender Klarheit, dass Gott unserem Volk ein kostbares Gut überreicht hat, mit dem wir liebevoll und sorgfältig umgehen müssen.“

In den drei Jahrzehnten nach der Singenden Revolution, dem Volksaufstand, der zum Ende der sowjetischen Besatzung in Estland führte, hat sich Viilma darum bemüht, die nun wieder unabhängige Kirche zu stärken und dieses kostbare Gut an die nächste Generation weiterzugeben.

Er wurde der jeweils jüngste Diakon, Pfarrer, Bischof und Erzbischof in der Estnischen Evangelisch-Lutherischen Kirche (EELK). 2017 wurde er zum Vizepräsidenten der Region Mittel- und Osteuropa des Lutherischen Weltbundes (LWB) gewählt.

Erzählen Sie uns bitte von Ihren Erinnerungen an Ihre Kindheit in der Sowjetzeit.

Meine beiden Brüder und ich verbrachten unsere Kindheit in einer typisch sowjetischen, kleinen Industriestadt in der Nähe von Tallinn, in der es keine Kirchengebäude gab. Meine Eltern waren getauft, aber sie waren keine aktiven Mitglieder der Kirche. Somit wuchsen wir nicht in einer christlichen Familie auf. Wir feierten Weihnachten und Ostern und beteiligten uns an der Tradition, Eier als Geschenke für die Nachbarn zu bemalen, aber ohne jegliche Kenntnisse des christlichen Hintergrunds.

„Ich entdeckte dieses Paralleluniversum, in dem Menschen zum Gottesdienst gehen, über Gott sprechen und für die Kirche arbeiten.“

– LWB-Vizepräsident Urmas Viilma

Ab der zweiten Hälfte der achtziger Jahre, als Michael Gorbatschow zum Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion gewählt wurde und seine Perestroika-Politik und Glasnost einführte, wurde die Kirche allmählich wieder anerkannt, und die Menschen ließen ihre Kinder wieder taufen. Ich entdeckte die Kirche über meine Schule, da der Schulleiter einen Dorfpfarrer einlud, der kam und über die christliche Kultur sprach. So entdeckte ich zum ersten Mal die Existenz dieses Paralleluniversums, in dem Menschen zum Gottesdienst gehen, über Gott sprechen und für die Kirche arbeiten. Ich war 16, aber ich wusste nichts darüber und war nicht sicher, ob ich gläubig war oder nicht, da ich mir niemals diese existentiellen Fragen gestellt hatte.

Wie reagierten Ihre Eltern, als Sie Ihnen erzählten, dass Sie Pfarrer werden wollten?

Fairerweise würde ich sagen, dass meine Eltern uns eine gute „christliche“ Erziehung mitgegeben haben, jedoch ohne Gott zu erwähnen. Sie lebten in einer Kleinstadt, in der jeder jeden kannte, und meinen Vater beunruhigte es besonders, wie die Gemeinde vor Ort meine Entscheidung aufnehmen würde. Er arbeitete als Techniker in einer Fabrik und erwartete, dass wenigstens einer seiner Söhne seine praktischen Fähigkeiten weiterführte. Ich arbeitete zwei Sommer während der Ferien in der Fabrik, aber als ich ihm sagte, dass ich vorhabe, Theologie zu studieren, ging er in seine Werkstatt im Keller und blieb sehr lange dort, rauchte und sprach mit niemanden ein Wort.

Meine Mutter arbeitete als Buchhalterin. Nach einer Weile sahen sie ein, dass Gemeindepfarrer ein ehrbarer Beruf war. Sie merkten, dass die Menschen positiv reagierten, und erkannten, dass es nicht so ein großes Unglück war, einen Sohn zu haben, der Theologie studiert!

Während der Sowjetbesatzung flohen viele Pfarrer und Priester ins Exil oder wurden nach Sibirien deportiert; Sie waren somit Teil einer neuen Generation junger Pfarrer, die ordiniert wurden?

Ja, bis zur Unabhängigkeit war es für die Menschen weiterhin möglich, am Theologischen Institut zu studieren, aber der Abschluss wurde nirgendwo in der Sowjetunion anerkannt. Daher haben sich viele Leute andere Einrichtungen angeschaut und hatten oft andere Berufe, bevor sie zum Theologiestudium kamen. Daher war es ein Neubeginn für die Kirche, junge Studierende wie mich, die gerade die zwölfte Klasse abgeschlossen hatten, zu Pfarrern und Pfarrerinnen  auszubilden.

Vielen ging es wie mir, sie hatten keinen christlichen Hintergrund, was in mancher Hinsicht problematisch war, aber der Kirche neue Wege in die Gesellschaft eröffnete. Auf der anderen Seite gab es diejenigen, die innerhalb eines atheistischen Systems christlich erzogen worden waren, in einer Blase, in einem christlichen Ghetto. Sie hatten kein Vertrauen zu Menschen außerhalb der Kirche oder sprachen nicht offen über ihren Glauben.

Ich war 16, als ich konfirmiert wurde, und gerade 19, als ich zum Diakon ordiniert wurde und der jüngste Pfarrer der EELK. Aber nun, 30 Jahre später, befinden wir uns wieder in einer Situation, in der Studierende selten direkt von der Schule kommen, um Theologie zu studieren, und in der Regel deutlich älter sind. Es fühlt sich manchmal seltsam an, mit Bewerbenden für das Theologiestudium zu sprechen, die viel älter sind als ich! Die Kirche wird vor einer großen Herausforderung stehen, wenn meine Generation das Rentenalter erreicht.

Als Kirchenleitender haben Sie sich sehr für die Wiederaufnahme des Religionsunterrichts durch kirchliche Schulen gelegt, nicht wahr?

Ich unterrichte noch immer drei Religionsklassen wöchentlich mit Schülerinnen und Schülern im Alter von 13 bis 15 Jahren. Da es an unseren staatlichen Schulen keinen Religionsunterricht gibt, haben sich alle Kirchen sehr darum bemüht, Schulen einzurichten, in denen sie die Grundkenntnisse über die Bibel, unseren Glauben und die ökumenischen Beziehungen mit anderen Christinnen und Christen unterrichten können.

Vor 30 Jahren haben sich Eltern gerne dafür entschieden, ihre Kinder in die Sonntagsschule zu schicken, aber heute gibt es so viele andere Aktivitäten, die an den Wochenenden um die Aufmerksamkeit der Kinder konkurrieren. Aber wenn sie keine Kenntnisse über oder kein Verständnis für die Kirche haben, woher soll die nächste Generation gläubiger Menschen kommen?

Sehen Sie darin die größte Herausforderung, der Ihre Kirche heute gegenübersteht?

Ja, aber der Heilige Geist wirkt nach wie vor in der Kirche. Wir erleben sehr engagierte Anwärter, die zum Studium an unsere Institute kommen. Der Pfarrberuf ist kein Beruf wie jeder andere und sehr anspruchsvoll. Nach drei Jahren Studium bis zum Bachelor-Abschluss, zwei Jahren bis zum Master und einem zusätzlichen Jahr seelsorgerlicher Ausbildung verfügt man über eine ausgezeichnete Ausbildung, die überall in der Welt anerkannt wird.

Aber man weiß auch, dass man als Pfarrer oder Pfarrerin weniger Geld verdient als jemand mit einer gesetzlichen Rente.  Wir stellen hohe Anforderungen, aber wir können es uns nicht leisten, viel zu zahlen. Daher muss die Berufung durch den Heiligen Geist stark sein. So gesehen, haben wir wieder eine ähnliche Situation wie zur Sowjetzeit, als die Menschen oft andere Berufe ausübten und Familien gründeten, aber sich hoch motiviert fühlten, der Berufung zu folgen, die sie viele Jahre zuvor gespürt haben.

Sie sind LWB-Vizepräsident für die Region Mittel- und Osteuropa. Erzählen Sie uns von dieser Aufgabe.

Es ist in vielerlei Hinsicht eine Herausforderung, auch schon vor dem Krieg in der Ukraine. In unserer Region gibt es keine gemeinsame Sprache: Russisch oder Deutsch wird als Sprache der früheren Besatzer angesehen. Englisch ist neutraler, aber es ist keine Sprache aus unserer Region und wird von den älteren Generationen in der Regel nicht gesprochen. Alle Kirchen in unserer Region sind Minderheitskirchen: Mit seiner christlichen Mehrheitskirche stellt Estland vielleicht eine Ausnahme dar, aber in der Gesellschaft sind wir noch immer in der Minderheit, da heute lediglich ein Drittel der estnischen Bevölkerung Christinnen und Christen sind.

Auch sind die Beziehungen zwischen den Kirchen in unserer Region komplex, mit drei lutherischen Kirchen auf russischem Staatsgebiet. Zwei sind LWB-Mitgliedskirchen, eine ist dem Internationalen Lutherischen Rat verbunden. Einige Kirchen ordinieren Frauen, andere nicht, und die meisten haben recht konservative Ansichten etwa zu Fragen der Sexualität. Auch vor dem Krieg war es nicht leicht für mich, zu reisen, um alle Kirchen zu besuchen, insbesondere in den ehemaligen Sowjetrepubliken wie Kasachstan, Kirgisistan oder Georgien. Hinzu kommt, dass die LWB-Region Mittel- und Osteuropa meiner Meinung nach kulturell und historisch die vielschichtigste Region in Europa ist, was die Komplexität noch erhöht. 

Aufgrund des Krieges in unserer Region ist es für die Menschen schwierig, miteinander zu kommunizieren. Angesichts dieser Komplexität versuche ich nicht, alle auf einen Nenner zu bringen, aber ich sehe die entscheidende Aufgabe darin, weiterhin als Brücke zu dienen und das Gespräch aufrechtzuerhalten. Die anderen europäischen Regionen können sich regelmäßig treffen, aber für uns ist es sehr kompliziert, daher können wir nur versuchen in Kontakt zu bleiben und uns nicht gegenseitig die Schuld zuzuschieben.

Wie ermutigen Sie die Menschen, sich dem LWB und der weltweiten Kirchengemeinschaft stärker verbunden zu fühlen?

Dies ist ein Problem, nicht nur für unsere Region, sondern auch in anderen Regionen, in denen dieselben Fragen gestellt werden. Meiner Meinung nach ist eine der Säulen des LWB nach wie vor die diakonische Arbeit, insbesondere mit Geflüchteten. Heutzutage ist das eines der zentralen Probleme, denen wir in unserer Region gegenüberstehen.

Während der letzten Krise in Syrien, zum Beispiel, als die Menschen mich gefragt haben, warum sie sich um Geflüchtete kümmern sollten, erinnerte ich sie daran, dass der LWB 1947 gegründet wurde – nach der großen Flüchtlingskrise des zweiten Weltkriegs. Zu der Zeit entkamen 70.000 Esten aus ihrem besetzten Land. Sie warteten in Lagern, als der LWB anfing, mit Staaten zu verhandeln, die bei ihrer Einbürgerung in Australien, die Vereinigten Staaten, Kanada oder Europa helfen sollten.

Als sehr kleine Kirche verfügen wir nicht über die finanziellen Mittel oder Ressourcen, um allein viel zu tun. Aber es ist gut zu wissen, dass man Teil eines umfassenderen Prozesses ist. Dasselbe gilt für die ökumenischen Beziehungen: Vor dem Krieg hatten wir konkrete bilaterale Verhandlungen mit der Russisch-Orthodoxen Kirche über die Notwendigkeit unserer Pfarrer, mit unseren Gemeinden in Moskau, St. Petersburg oder Sibirien zu arbeiten. Aber wir haben nicht die Kapazitäten, Dialoge mit zahlreichen anderen christlichen Kirchen zu führen, daher ist es gut zu wissen, dass wir weltweit durch den LWB auch in dieser wichtigen Aufgabe vertreten werden.

 

 

Der Lutherische Weltbund (LWB) ist eine weltweite Gemeinschaft, deren Mitglieder sich gemeinsam für das Werk und die Liebe Christi in der Welt einsetzen. In dieser Reihe präsentieren wir Kirchenleitende und Mitarbeitende, die über aktuelle Themen sprechen und Ideen entwickeln, wie Frieden und Gerechtigkeit in der Welt geschaffen werden und die Kirchen und die Gemeinschaft in ihrem Glauben und ihrem Engagement wachsen können.

LWB/P. Hitchen. Deutsche Übersetzung: Tonello-Netzwerk, Redaktion: LWB/A. Weyermüller