Nepal: Christliche und islamische Hilfsorganisation unterstützen gemeinsam die Bedürftigsten

9. Okt. 2015
Sita (Mitte) und weitere NachbarInnen inmitten der Bausätze für Stehtoiletten. Foto: Lucia de Vries

Sita (Mitte) und weitere NachbarInnen inmitten der Bausätze für Stehtoiletten. Foto: Lucia de Vries

Besondere christlich-muslimische Partnerschaft wirkt „inspirierend“

London/Genf, 8. Oktober 2015 (LWI) – Sie waren sechs Stunden zu Fuss auf schlammigen Pfaden unterwegs, mussten Gebirgsbäche und Erdrutsche queren. Viele von ihnen waren Mütter mit kleinen Kindern auf dem Arm. Sie waren allein unterwegs, denn ihre Ehemänner arbeiten im Ausland, in Katar oder Malaysia. Andere waren alte Männer, ihre Schultern gebeugt unter der Last lebenslanger harter Arbeit. Einer von ihnen hatte mit einer Beinprothese den gefährlichen Weg gewagt. Als die Verteilung begann, setzten sie sich in die pralle Sonne und warteten darauf, dass ihr Name aufgerufen wurde.

Die Menschen aus dem entlegenen Yarsa im Distrikt Rasuwa haben die Erdbeben, die Nepal vor einigen Monaten heimsuchten, besonders hart getroffen. Sie verloren nicht nur ihre Häuser und mussten in improvisierten Zelten oder in Kuhställen leben, wiederholte Erdrutsche schnitten sie zudem von der Aussenwelt ab. Betroffen sind auch Behinderte, auf sich gestellte Frauen und so genannte Dalits – „Unberührbare“, die in dem herrschenden Kastensystem allein durch ihre Herkunft als unrein gelten.

Am 29. September 2015 nun erhielt die Bevölkerung von Yarsa endlich Baumaterialien für Notunterkünfte und Toiletten. Die dringend benötigte Hilfe ist das Ergebnis der weltweit ersten offiziellen Zusammenarbeit zwischen einer islamischen und einer christlichen humanitären Organisation, die beide international präsent sind. Im August 2014 unterzeichneten der Lutherische Weltbund (LWB) und Islamic Relief Worldwide (IRW) eine Vereinbarung, in der sie ihre Zusammenarbeit bei humanitären Hilfsmassnahmen festgeschrieben haben.

In Nepal unterstützen das dortige LWB-Länderprogramm und IRW gemeinsam die Bevölkerung von fünf Village Development Committees (Dorfverbänden – unterste Verwaltungsebene Nepals) im Distrikt Rasuwa. Diese Gebirgsgegend an der Grenze zu Tibet gehört zu den fünf am schwersten betroffenen Provinzen Nepals. Insgesamt wurden 430 Todesopfer und 753 Verletzte gezählt. Die meisten von ihnen forderte ein Erdrutsch, der das Dorf Langtang und seine Umgebung unter sich begrub. Nach Schätzungen waren in Rasuwa 80 Prozent der Bevölkerung betroffen und 8.000 Gebäude wurden zerstört.

LWB und IRW erreichten Yarsa erst sehr spät. Die Strasse in das Gebiet war von neuerlichen Erdrutschen vollständig zerstört worden und die Hilfsorganisationen sahen sich bei der Beschaffung von genügend Wellblechplatten aus Indien mit logistischen Problemen konfrontiert. Im Beisein von Manoj Timilsina (LWB-Nepal) und Bilal Achmad Zargar (IRW) wurden den Dalit-Familien Materialien wie hochwertiges Wellblech, Maschendraht, Stehtoiletten aus Plastik, Rohre, Zement und Nägel übergeben. Ausserdem erhielten sie jeweils 2.000 Nepalesische Rupien (gut 19 US-Dollar) zur Finanzierung der Baukosten.

Das Leben im Zelt hat ein Ende

Nach fünf Monaten im Zelt oder im Kuhstall war das Baumaterial höchst willkommen. „Ich bin heute so erleichtert“, betonte Sita BK. „Das Leben unter einem Zeltdach war alles andere als leicht. Es gibt immer noch Nachbeben und der Monsunregen macht uns grosse Probleme.“ Die 42-jährige dreifache Mutter wird den Bau ihrer neuen Unterkunft und Toilette allein organisieren müssen. Ihr Mann ist als Wanderarbeiter in Malaysia.

Der Kleinbauer Subha BK (40) schaffte es mit der Hilfe eines Nachbarn trotz seiner Beinprothese bis zur Verteilstelle. „Das Leben wurde schwierig, nachdem ich mein Bein verlor und meine Frau mich verliess. Aber meine Freunde unterstützen mich. Mit ihrer Hilfe und dank dieses Materials kann ich mir eine bessere Unterkunft bauen“, kommentierte der Dalit mit einem strahlenden Lächeln.

Mit dem Baumaterial ergeben sich aber auch neue Sorgen: Dhan Bahadur BK (60) fragt sich, wohin er seine Hütte bauen soll. „Es gibt in unserem Dorf keinen sicheren Ort. Wir sind umgeben von Erdrutschen. Wenn uns die Regierung keine sicheren Grundstücke zur Verfügung stellt, werden wir uns auch in Zukunft gefährdet fühlen.“

Zusammenarbeit ist beispielhaft für Harmonie in der Gesellschaft

In der ersten Phase der Zusammenarbeit zwischen LWB-Nepal und IRW, an der auch die Manikor Society als lokale Partnerin beteiligt war, erhielten 2.042 Familien Notunterkünfte und Toiletten. Im Rahmen eines zehntägigen Workshops wurden 90 Personen Kenntnisse in der Zimmerei vermittelt, damit sichere, stabile Gebäude entstehen. In der zweiten Phase der Partnerschaft sollen neue, feste Häuser gebaut werden.

„Die Partnerschaft zwischen LWB und IRW wirkt inspirierend“, erklärte der Ländervertreter von LWB-Nepal, Dr. Prabin Manandhar. „Im religiösen Bereich beheimatete Organisationen, die zusammenarbeiten, um den Schwächsten zu helfen, weisen den Weg zu Solidarität und gesellschaftlicher Harmonie in einer gespaltenen Welt.“

Manandhar ist der Überzeugung, dass diese einmalige Kooperation es den Hilfsorganisationen auch ermöglicht, die eigenen Vorurteile und Schwächen kritisch zu betrachten und sich gleichzeitig mit ihren Stärken zu ergänzen. „Eine christliche und eine muslimische Organisation arbeiten in einem mehrheitlich hinduistischen Land eng zusammen und unterstützen eine buddhistische Minderheit. Diese Partnerschaft beweist, dass religiöse Harmonie kein Traum bleiben muss.“

Während der ersten Zeit der Akuthilfe hatten LWB und IRW jeweils eigenständig über 110.000 Menschen in Nepal unterstützt, durch die Bündelung ihrer Ressourcen können sie in der Wiederaufbauphase noch deutlich mehr Bedürftige erreichen.

(Ein Beitrag von LWI-Korrespondentin Lucia de Vries.)