Psychosoziale Unterstützung für psychisch Kranke im Tschad

8. Jul. 2015
Behandlung und Pflege machten es möglich, dass Améline sich wieder frei bewegen und für ihre Kinder sorgen kann. Foto: LWB/ C. Kästner

Behandlung und Pflege machten es möglich, dass Améline sich wieder frei bewegen und für ihre Kinder sorgen kann. Foto: LWB/ C. Kästner

„Ich fühle mich jetzt stärker respektiert“

Gore (Tschad)/Genf, 23. Juni 2015 (LWI) - Der Klotz liegt immer noch im Hof ihres Hauses im Dorf Maro im Tschad. Es handelt sich um einen grossen, weissen Holzklotz, der nur schwer anzuheben ist und ganz glatt poliert von dem Menschen, der so lange den ganzen Tag darauf sass. Der Klotz diente dazu, Améline (ihr Name wurde von der Redaktion geändert) fast zwei Jahre lang daran zu ketten. Die 35 Jahre alte Frau ist aufgrund einer Hirninfektion nach einer Meningitis vor zwei Jahren stark geistig beeinträchtigt. Erst als eine Sozialarbeiterin des Lutherischen Weltbundes (LWB) sie fand, wandte sich ihr Schicksal zum Guten.

„Allein in diesem Dorf gibt es neun Fälle“, sagt Francoise Milamem, eine Sozialarbeiterin des LWB. Sie fand Améline und vier weitere Menschen mit schweren geistigen oder psychischen Beeinträchtigungen, die alle unter schrecklichen, unmenschlichen Bedingungen lebten. Sie leiden unter Epilepsie, Psychosen, multiplen Persönlichkeitsstörungen oder anderen gesundheitlichen Problemen. Oft wird ihre Situation durch die Nichtakzeptanz in ihren Gemeinden und das Fehlen von Fachleuten zur Behandlung psychischer Krankheiten noch verschlimmert.

Erschöpfte Verwandten, vernachlässigte Patienten

Die Menschen in dem alten Dorf Maro im südlichen Tschad beherbergen mehr als 50.000 Flüchtlinge aus der Zentralafrikanischen Republik (ZAR). Es sind nur wenige Fachleute vorhanden, die sich mit geistigen Behinderungen und psychischen Problemen auskennen. Die LWB-Sozialarbeiterin Milamem hat die Situation dokumentiert, in der sie die geistig behinderten Menschen fand: Nackt, vernachlässigt, festgebunden und in schlechter gesundheitlicher Verfassung.

„Ich hatte eine Überweisung ins Krankenhaus, aber sie weigerte sich, hinzu gehen“, sagt Adumi, der Ehemann von Améline. „Also ging ich zu einem traditionellen Heiler.“ Die traditionelle Heilmethode war vor allem teuer: Adumi verkaufte Land und eine Kuh, um die Behandlung seiner Frau zu bezahlen. „Wir mussten Geld für eine Ziege ausgeben und sie der Tradition entsprechend opfern, aber das half nicht“, sagt er. Zu all dem kommt nun, dass die Familie dadurch hoch verschuldet ist.

Für psychisch Kranke und ihre Verwandten kommt die psychosoziale Notfallhilfe des LWB in der Regel erst dann, wenn die Leute bereits verzweifelt sind. Manchmal sind die Kranken von ihren Familien und Ehegatten bereits verlassen worden.

„Sie wollte mich angreifen, ihre Kinder schlagen und Dinge zerstören“, erinnert sich Francoise an Amélines anfänglichen Zustand. „Ein andermal war sie geistig abwesend, blieb ganz in ihrer eigenen Welt.“

Da Amélines Eltern sich weigerten, Verantwortung zu übernehmen, war ihr Ehemann Adumi bald allein mit der Situation und musste sich um die sechs kleinen Kinder kümmern sowie um eine Krankheit, die er nicht verstand. Als Améline das Haus anzündete und das Hab und Gut der Familie einschliesslich der Geburtsurkunden und weiterer Dokumente zerstörte, beschloss er, sie an den Holzklotz zu ketten. „Ich danke Gott, dass der LWB uns zu Hilfe kam“, sagt er.

Hilfe über medizinische Behandlung hinaus

Der LWB bietet zwar selbst keine medizinische Behandlung an, doch seine Unterstützung ist wichtig bei der Aufdeckung von Fällen und dabei, Betroffene zu überzeugen, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. In der Regel werden die Menschen bei Hausbesuchen innerhalb der Gemeinde entdeckt. Einmal in der Woche bietet der LWB zudem eine Beratung in einem Gesprächszentrum in Maro an. „Wir haben jedes Mal etwa vier Fälle“, sagt LWB-Mitarbeiterin Milamem. Die Fälle sind je nach Art der psychischen Krankheit unterschiedlich, doch es geht oft auch um häusliche Gewalt, Missbrauch und Genitalverstümmelung bei Frauen.

Nachdem sie Améline überzeugt hatte, einen Arzt aufzusuchen und die verschriebenen Medikamente einzunehmen, fuhr Milamem fort, die Situation der Familie zu begleiten und besuchte sie weiterhin regelmässig oder lud sie zu Einzelsitzungen in das Gesprächszentrum ein. Oft ist die medizinische Behandlung nur ein Teil eines langen Prozesses, der notwendig ist, um die häusliche Situation zu verbessern.

Für die Familie von Améline liegt der Schwerpunkt nun auf der Rückzahlung ihrer Schulden. Die Familie wird Hilfen aus dem LWB-Programm zur Existenzsicherung erhalten. Adumi bekommt etwas Bargeld, um ein Geschäft zu eröffnen. „Améline kann kleine Kuchen backen und ich werde Fisch räuchern. Beides werden wir dann auf den Markt bringen und dort verkaufen“, sagt er. Zudem hat er ein Feld hinter dem Haus gerodet, um dort Erdnüsse zu pflanzen.

Améline hat noch oft einen abwesenden Blick. „Ich fühle mich ein bisschen besser“, sagt sie ruhig. Die Medikamente machen sie müde, doch sie bereitet das Essen zu und passt auf die kleinen Kinder auf. „Ich werde sie nicht verlassen, sie ist doch die Mutter meiner Kinder“, sagt Adumi. Er lässt sie immer noch nicht gern alleine, doch da Améline nun in Behandlung ist, kommen die Nachbarn, um zu helfen.

„Ich fühle mich jetzt stärker respektiert“, sagt Adumi. „Die Leute grüssen uns, wenn sie Améline im Dorf sehen. Ich bin sehr froh für all diese Unterstützung.“