Venezuela: Schutz der am stärksten gefährdeten Menschen

30. Jan. 2024

Venezuela befindet sich in einer überaus schwierigen sozioökonomischen Lage. Viele Menschen können lebenswichtige Leistungen der Daseinsvorsorge wie zum Beispiel die Versorgung mit Trinkwasser oder Gesundheitsdienstleistungen nicht bezahlen. Dies stellte Allan Calma, der beim LWB für die Koordinierung humanitärer Aktionen zuständig ist, vor kurzem während eines Besuchs in dem Land fest. 

Humanitärer Einsatz in den indigenen Gemeinschaften Pepeina, Wakajara de la Horqueta und Winamorena in der Gemeinde Pedernales im Bundesstaat Delta, Venezuela

Humanitärer Einsatz in den indigenen Gemeinschaften Pepeina, Wakajara de la Horqueta und Winamorena in der Gemeinde Pedernales im Bundesstaat Delta, Venezuela. Foto: Kolumbien-Venezuela

Gespräch mit Allan Calma, Koordinator der humanitären Hilfe beim LWB

(LWI) – Mehr als sieben Millionen Menschen aus Venezuela haben ihre Heimat bereits verlassen. Politische Instabilität, unhaltbare wirtschaftliche Zustände und fehlende soziale Dienste treiben nach wie vor zahlreiche Menschen aus dem Land. Gleichwohl gibt es erste Hinweise darauf, dass einige Menschen auch wieder zurückkehren. 

Das LWB-Länderprogramm in Kolumbien-Venezuela unterstützt Migranten und Migrantinnen, die in Kolumbien unterwegs sind, und besonders gefährdete Gemeinschaften in Venezuela und Kolumbien. Allan Calma, der die humanitäre Arbeit in der Zentrale des LWB-Weltdienstes in Genf koordiniert, hat das Land vor kurzem besucht. Im Interview fasst er seine Eindrücke zusammen, berichtet darüber, was die Menschen dort am dringendsten brauchen, und erklärt, warum es immer noch einen Grund zur Hoffnung gibt. 

Welchen Eindruck haben Sie von Venezuela? 

Venezuela befindet sich in einer überaus schwierigen sozioökonomischen Lage. Für einige Güter und Dienstleistungen sind die Preise so hoch wie in der Schweiz. Gleichzeitig reichen die Löhne und Gehälter nicht einmal aus, um die Miete zu bezahlen. Ich weiß nicht, wie die meisten Menschen dort überleben; mit dem Lohn, den sie normalerweise verdienen, kann man unmöglich seinen Lebensunterhalt bestreiten. 

Es gibt so gut wie keine sozialen Dienstleistungen. Wenn Sie sich in einem öffentlichen Krankenhaus behandeln lassen wollen, müssen Sie ihre eigenen Medikamente und die erforderlichen Materialien für eine Behandlung selbst mitbringen. Wer für eine Operation ins Krankenhaus geht, muss vorher in einer Apotheke die erforderlichen Medikamente und Artikel wie z. B. Lanzetten und Wundverbände selbst kaufen, da diese in den Krankenhäusern nicht verfügbar sind. Trinkwasser ist rationiert, die Menschen haben nur vier Tage in der Woche eine funktionierende Wasserversorgung. An den verbleibenden drei Tagen nutzen sie entweder das Wasser, das sie eingespart haben, oder kaufen zusätzliche Kontingente zu einem überhöhten Preis. Das ist die Situation in der Hauptstadt. Sie können sich also vorstellen, wie die Lage in den ländlichen Gebieten ist. 

Auch das Bildungssystem befindet sich in einem sehr schlechten Zustand. Wir sind aufs Land gefahren und haben die Delta-Region besucht. Die Schulgebäude sind in einem furchtbaren baulichen Zustand, die Menschen nutzen deshalb andere Gebäude, zum Beispiel Kirchen. Oftmals gibt es dort, wo sich die Schulen befinden, keine Lehrkräfte, da die Gehälter niedrig sind, und in einigen Fällen hat die Kommunalverwaltung dafür einfach kein Geld. Einige NGO übernehmen stattdessen die Bezahlung, aber wie wir in anderen humanitären Kontexten feststellen konnten, ist das eine heikle Angelegenheit, denn Bildung muss ausschließlich in der Verantwortung der Regierung liegen. Die Lage ist kritisch. 

Was unternimmt der LWB in Venezuela? 

In Venezuela arbeiten wir sowohl in der Provinz als auch in den Städten und in Gebieten, die von der Krise am stärksten betroffen sind. Ein Teil unserer Tätigkeit besteht darin, indigene Bevölkerungsgruppen zu unterstützen. Sie leben am Fluss im Delta, man kann nur mit dem Boot dorthin fahren. Die meisten indigenen Familien in der Gemeinde Pedernales im Delta haben kein festes Einkommen, sondern erhalten eine staatliche Unterstützung in Höhe von 10 Dollar im Monat. Das Team hat uns erzählt, dass die Familien dort nur eine Mahlzeit am Tag zu sich nehmen und sich keine eiweißreiche Nahrung wie zum Beispiel Fleisch leisten können Ein Liter Wasser kostet bereits 2,50 US-Dollar. 

Gemeinsam mit dem Welternährungsprogramm (WFP) der Vereinten Nationen stellen wir in den Schulen kostenlose Mahlzeiten zur Verfügung. Diese Maßnahme sorgt dafür, dass Schüler und Schülerinnen regelmäßig zum Unterricht kommen und sich besser ernähren. Gleichzeitig geben wir auch Lebensmittelpakete und Trinkwasser an die örtliche Gemeinschaft aus. 

Wir arbeiten ebenfalls mit Menschen zusammen, die wieder in ihre Heimat zurückkehren. Es gibt viele, die das Land verlassen haben. Nach und nach kommen einige von ihnen zurück, da sie Anzeichen für eine wirtschaftliche Erholung festgestellt haben. Einige Mitglieder der internationalen Gemeinschaft sehen ein Ende der Migrationskrise und dass die Menschen wieder nach Venezuela zurückkehren. Diese Krise ist aber nicht vorbei. Sie geht weiter, und das bedeutet für die Gemeinschaften in Venezuela eine erhebliche Belastung. 

Eine Karte für Migrierende, die auf der Arauca-Casanare-Schutzroute unterwegs sind

Eine Karte für Migrierende, die auf der Arauca-Casanare-Schutzroute unterwegs sind, ausgearbeitet vom LWB-Kolumbien in Venezuela mit Unterstützung der Schweizer Botschaft. Foto: Lorena Acevedo, FLM Colombia y Venezuela 

Unterstützt der LWB auch Menschen, die unterwegs sind und zum Beispiel in Kolumbien Hilfe brauchen? 

Ja, Menschen, die Venezuela verlassen, müssen andere Länder durchqueren, zum Beispiel Kolumbien. Sie kommen über Arauca in das Land. In dieser Gemeinde ist der LWB mittlerweile seit 20 Jahren im Einsatz. Unser Einsatzgebiet ist die Hauptstraße ab der Grenze in Arauca bis hin zur kolumbianischen Hauptstadt Bogota. Eines unserer Projekte war die Erstellung einer Landkarte mit Anlaufstellen für die Migrierenden und Informationen über die Versorgungsleistungen, die sie dort in Anspruch nehmen können. Wir händigen diese Karte allen ankommenden Migrierenden aus, damit sie wissen, an wen sie sich für bestimmte Dienstleistungen werden können. Auf der Karte ist die Hauptstraße eingezeichnet, wie viele Tage man zu Fuß unterwegs sein wird, und wie lange mit dem Auto. Man sieht dort viele Familien mit Kochgeschirr auf dem Rücken, die versuchen, per Anhalter weiterzukommen. 

Kolumbien versucht inmitten multipler Krisen das Problem der aus Venezuela geflüchteten Menschen zu bewältigen, wird aber auch durch interne Konflikte mit paramilitärischen Gruppen (Guerilla) herausgefordert, die landesweit um Einfluss kämpfen. Die Geflüchteten erleben oft Konflikte mit den Aufnahmegemeinschaften und geraten zwischen die Fronten nicht-staatlicher bewaffneter Gruppen, oder sie werden von Banden angegriffen, die es auf Flüchtende entlang der Migrationsstrecken abgesehen haben. Kriminelle Banden attackieren, bestehlen und vergewaltigen sie. In dieser Region gibt es eine ausgeprägte Kriminalität, die meistens nicht angezeigt wird. 

Informationen über die Route und bestehende Risiken

Informationen über die Route und bestehende Risiken werden auf der Rückseite der Karte beschrieben und richten sich an die Menschen, die auf der Arauca-Casanare-Schutzroute unterwegs sind. Sie wurde entwickelt vom LWB-Kolumbien in Venezuela mit Unterstützung der Schweizer Botschaft. Foto: Lorena Acevedo, FLM Colombia y Venezuela

Wo wollen die Menschen hin? 

Wenn sie könnten, würden sie in Venezuela bleiben. Es gibt für sie aber dort einfach keine Perspektive. Wenn wir also die Probleme in Venezuela nicht lösen, wird die Migration weitergehen. Zunächst sind Kolumbien und El Salvador das Ziel, von dort aus versuchen sie, in die Vereinigten Staaten zu kommen. Die USA sind für die meisten Migrierenden und Flüchtenden aus Venezuela das Wunschziel. Mehr als eine halbe Million Menschen, fast zwei Drittel davon aus Venezuela, riskieren ihr Leben bei der Durchquerung des Darien Gap, eines gefährlichen Dschungels zwischen Kolumbien und Panama. Andere wählen die Route über die Atlantikküste und begeben sich auf eine gefährliche Seefahrt, um die USA zu erreichen. 

Eine LWB-Mitarbeiterin erklärt, wo Migrierende aus Venezuela Hilfe finden können. Die Karte der Arauca-Casanare-Schutzroute wurde vom LWB-Kolumbien in Venezuela mit Unterstützung der Schweizer Botschaft entwickelt.

Eine LWB-Mitarbeiterin erklärt, wo Migrierende aus Venezuela Hilfe finden können. Die Karte der Arauca-Casanare-Schutzroute wurde vom LWB-Kolumbien in Venezuela mit Unterstützung der Schweizer Botschaft entwickelt. Foto: LWB/Lorena Acevedo

Wie arbeiten sie mit den örtlichen LWB-Mitgliedskirchen zusammen? 

Wir arbeiten sehr eng mit den LWB-Mitgliedskirchen zusammen, diese Kooperation ist ausgezeichnet. In Venezuela sind wir gemeinsam mit der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Venezuela im Einsatz; und in Kolumbien gibt es ebenfalls eine signifikante Zusammenarbeit im Rahmen von Projekten mit der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Kolumbien. Die Kirche ist zum Beispiel an der Atlantikküste in Chocó präsent und damit fast dort, wo die Routen durch den Dschungel oder über das Meer beginnen. 

Gibt es Zeichen der Hoffnung? 

Gut ausgebildete venezolanische Fachkräfte kommen zurück und suchen nach konkreten Möglichkeiten, wie sie am besten helfen können. Es gibt einen deutlichen Anstieg der Anzahl internationaler Nichtregierungsorganisationen unter venezolanischer Leitung. Diese Fachkräfte haben ihre Einsätze im Ausland beendet, um nach Venezuela zurückzukommen und von dort aus zu arbeiten. Ich war inspiriert durch die Präsenz, das Engagement und den Enthusiasmus dieser jungen Menschen und ihre Bereitschaft, etwas für ihr Land zu tun. Wir erleben dies auch bei unseren eigenen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, und das ist ein Zeichen der Hoffnung. 

LWB/C. Kästner-Meyer