LWB-Repräsentantin: „Verheerende Lage“ im Gazastreifen

23. Jan. 2024

Drei Monate nach Beginn des Angriffs der Hamas auf Israel und des Kriegs im Gazastreifen gibt es immer noch Krebspatienten und -patientinnen, die im  Auguste-Viktoria-Hospital festsitzen. In einem Interview spricht die LWB-Länderrepräsentantin in Jerusalem, Sieglinde Weinbrenner, über die Lage in Jerusalem und im Gazastreifen.

Sieglinde Weinbrenner, LWB-Länderrepräsentantin in Jerusalem. Foto: LWB/Albin Hillert

Sieglinde Weinbrenner, LWB-Länderrepräsentantin in Jerusalem. Foto: LWB/Albin Hillert

Gespräch mit Sieglinde Weinbrenner, LWB-Länderrepräsentantin in Jerusalem,

(LWI) – Drei Monate nach Beginn des Krieges in Gaza ist die Lage „verheerend“, sagt Sieglinde Weinbrenner, LWB-Länderrepräsentantin in Jerusalem. Menschen mit Krebserkrankungen in Gaza haben keine Chance auf eine lebensrettende Behandlung im Auguste-Viktoria-Hospital (AVH) des Lutherischen Weltbundes (LWB) in Ostjerusalem. Der Krieg hindert Patienten und Patientinnen sowie Personal aus dem Gazastreifen und dem Westjordanland daran, zum Krankenhaus zu gelangen.

Mehr als 1.000 Behandlungen versäumt

„Hier in Jerusalem ist die Lage ruhig, aber sehr angespannt“, sagt Weinbrenner. In der Altstadt sind kaum Touristen und Touristinnen oder Pilgernde zu sehen, die man hier üblicherweise trifft. Ganz anders die Situation im Westjordanland, wo es täglich zu Gewaltausbrüchen kommt. “Seit Beginn des Krieges in Gaza können wir auch unsere aufsuchenden Patientenprogramme im Westjordanland nicht mehr durchführen. Das betrifft vor allem die mobile Mammographie-Einheit und die mobile Diabetes-Einheit ", fügt sie hinzu.

Aufgrund der gestiegenen Gewalt im Westjordanland setzt der LWB jetzt Busse ein, um unverzichtbares medizinisches Personal zum Krankenhaus zu transportieren. Die Busse werden an den Checkpoints oft nur nach langen Wartezeiten abgefertigt. Rund 30 % der Patienten und Patientinnen aus dem Westjordanland waren in den letzten Monaten nicht in der Lage, ihre Termine für Chemotherapien, Bestrahlungen oder Dialyse wahrzunehmen. „Hunderte Behandlungstermine für Patienten und Patientinnen aus dem Westjordanland mussten in den vergangenen drei Monaten abgesagt werden“, sagt Weinbrenner. „Aufgrund der Verzögerungen an den Checkpoints müssen sie für eine Anfahrt, die im Normalfall 30 Minuten gedauert hätte, jetzt mehr als zwei Stunden einplanen.“

Während das Krankenhaus weiterhin ungefähr einhundert Patientinnen und Patienten und ihre Begleitpersonen beherbergt und versorgt, die vor dem Krieg in das AVH überwiesen wurden, mache man sich grosse Sorgen um die Patientinnen und Patienten im gazastreifen. Zu vielen sei der Kontakt abgebrochen, sagt Weinbrenner. “Wir wissen nicht, ob sie überhaupt noch leben.”

„Seit mehreren Wochen versuchen wir, 28 krebskranke Kinder auf die Evakuierungsliste setzen zu lassen“, sagt Weinbrenner. Das sei bisher ebenso erfolglos gewesen wie der versuch, lebensrettende Medikamente zu den Patientinnen und Patienten in Gaza zu bringen.

Zugang zu humanitärer Hilfe dringend erforderlich

Die medizinische Infrastruktur in Gaza funktioniere kaum noch, sagt Weinbrenner. Der LWB arbeitet mit dem anglikanischen Al-Ahli-Krankenhaus in Nordgaza im Bereich der Krebs-Früherkennung zusammen. Es habe mehrere Angriffe auf das Krankenhaus gegeben, zuletzt am 18. Dezember. „Einer unserer Mitarbeiter, ein Vater von drei Kindern, wurde getötet. Andere Fachkräfte des Hospitals, darunter Ärzte, Ärztinnen, Krankenschwestern und Krankenpfleger, wurden verhaftet.“

Das Al-Ahli-Krankenhaus wurde schwer beschädigt. Nach den letzten Informationen, die Weinbrenner vorliegen, sind insgesamt acht Ärzte und Pflegepersonal im Al-Ahli geblieben, um die Patienten und Patientinnen zu versorgen, die nicht evakuiert werden können.

Wir brauchen einen Waffenstillstand, wir müssen dafür sorgen, dass Hilfslieferungen in Gaza ankommen, und wir müssen in der Lage sein, unsere Patienten und Patientinnen zu behandeln.

Sieglinde Weinbrenner, LWB-Länderrepräsentantin in Jerusalem.

In nördlichen Teil des Gazastreifens, so Weinbrenner, gebe es nur noch drei in irgendeiner Weise funktionierende Krankenhäuser. „Sie können Notoperationen durchführen, aber sie haben nicht die erforderlichen Geräte. Oft verbinden sie nur noch Wunden“, sagt Weinbrenner. „Die Krankenhäuser versuchen, Schwerverletzte in den Süden des Gazastreifens zu verlegen. Das erfordert ein extremes Maß an Koordination mit den kriegsführenden Parteien. Wie gut das funktioniert, kann ich nicht sagen.“ Weinbrenner fügt hinzu, dass es aufgrund schlechter Internet und Telefonverbindungen sehr schwer sei, zuverlässige Informationen aus dem Kriegsgebiet zu bekommen.

Am wichtigsten sei jetzt ein humanitärer Korridor, sowie Hilfe für die Zivilbevölkerung und die Verwundeten, sagt die LWB-Repräsentantin. „Wir brauchen einen Waffenstillstand, wir müssen dafür sorgen, dass Hilfslieferungen in Gaza ankommen, und wir müssen in der Lage sein, unsere Patienten und Patientinnen zu behandeln. Wir brauchen eine dauerhafte Lösung, die es dem israelischen und dem palästinensischen Volk erlaubt, in Frieden und Würde miteinander zu leben.“

In einer aktuellen Erklärung hat der LWB eine Waffenruhe und einen Zugang für humanitäre Hilfe im Gazastreifen gefordert „Die menschlichen Kosten dieses Krieges sind unerträglich, und die humanitäre Lage verschlechtert sich weiter. Die Auswirkungen der Kämpfe auf Bevölkerung und Infrastruktur wie Häuser, Krankenhäuser, Schulen, Straßen, religiöse Stätten und andere öffentliche Einrichtungen sind erschütternd“, heißt es in der Erklärung.

LWF/C. Kästner-Meyer