Großbritannien: Theologische und praktische Ökumene

17. Nov. 2023

Im Interview spricht die in Deutschland geborene Theologin Dr. Anna Krauß über Aspekte ihres ökumenischen Engagements auf nationaler und lokaler Ebene im Vereinigten Königreich. 

 Anna Krauß

Dr. Anna Krauß, LWB-Ratsmitglied und Generalsekretärin des Rates der Lutherischen Kirchen in Grossbritannien. Foto: LWB/A. Hillert

Interview mit Dr. Anna Krauß, Generalsekretärin des Rats der lutherischen Kirchen im Vereinigten Königreich 

(LWI) – 2023 war für Dr. Anna Krauß, eine in Deutschland geborene Theologin und Ökumenikerin, die derzeit Generalsekretärin des Rats der lutherischen Kirchen im Vereinigten Königreich (CLC) ist, ein sehr anstrengendes, aber auch erfolgreiches Jahr.  

Im März arbeitete sie bei der Organisation der vorbereitenden Tagung der europäischen Regionen in Oxford auf die Dreizehnte Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes (LWB) in Krakau, Polen, eng mit dem LWB und der Lutherischen Kirche in Großbritannien zusammen.  

Im Mai wurde sie zur Vorsitzenden der so genannten „Fourth Presidency“-Gruppe von Churches Together in England ernannt, des größten ökumenischen Gremiums im Land, in dem mehr als 50 verschiedene Konfessionen und christliche Glaubensgemeinschaften zusammenarbeiten.  

Im September wurde sie auf der LWB-Vollversammlung in Krakau offiziell als Vertreterin der kleinen, aber sehr lebendigen lutherischen Kirche im Vereinigten Königreich in den neuen LWB-Rat und das Exekutivkomitee gewählt und in dieses Amt eingeführt.   

Im Oktober leiteten Sie die Feierlichkeiten zum 75-jährigen Jubiläum des CLC, dem neun lutherische Kirchen aus verschiedenen Ursprungsländern angehören. Das ökumenische Engagement ist Ihnen sehr wichtig. Woher kommt dieses ausgeprägte Interesse?  

Ich bin in einer vornehmlich lutherischen Familie in Nordbayern aufgewachsen, in der sich alle sehr in der Kirche engagierten. Ein kleiner Teil meiner Familie war römisch-katholisch, aber ich bin vorwiegend mit einer sehr lutherischen Identität und einem starken Gefühl der Zugehörigkeit zur lutherischen Kirche aufgewachsen.  

In der Schulzeit hatte ich viele Freunde aus unterschiedlichen Kirchen, aber dann bin ich für ein Auslandsjahr an die Aberdeen University in Schottland gegangen und dort gab es fast gar keine lutherischen Gläubigen. Ich habe mich dann in der (reformierten) Kirche von Schottland und der römisch-katholischen Studierendengemeinde vor Ort engagiert. Das war nicht immer einfach, aber eine sehr prägende Erfahrung für mich, und seither engagiere ich mich für die Ökumene.  

Sie sind Alttestamentlerin und Expertin für frühe biblische Handschriften. Welche Bedeutung hat das für Ihre Arbeit heute?  

Die Bibel ist allen christlichen Gläubigen gemein, aber wir betrachten sie aus unterschiedlichen Blickwinkeln und vor dem Hintergrund ganz unterschiedlicher Erfahrungen. Meine Forschung konzentriert sich auf frühe biblische Handschriften und die Ursprünge der Bibel. Ich lerne dadurch viel darüber, wie die Menschen aus ihrem jeweiligen Kontext heraus in den Anfangsjahren unseres Glaubens mit der Bibel interagiert haben. Das hilft mir sehr, wenn ich zu verstehen versuche, wie Gläubige aus anderen christlichen Glaubenstraditionen die biblischen Texte heute lesen und verstehen.  

Wie wirkt sich Ihre umfassende ökumenische Erfahrung auf Ihren Alltag aus?  

Viele Menschen verstehen die theologischen Übereinkommen als das Ergebnis eines langen Prozesses. Aber für all jene, die in ökumenischen Partnerschaften leben, sind diese Übereinkommen vielmehr der Anfang und die Grundlage für etwas ganz Wunderbares.  

Die lutherischen Gläubigen in England haben ein sehr gutes Verhältnis zur Kirche von England, die hier die etablierte Kirche ist. Durch die Porvoo-Gemeinschaft haben Lutheraner und Anglikaner in Europa sehr enge Beziehungen, die das Vertrauen, die Zusammenarbeit und das gemeinsame Bekenntnis fördern. 

Am Reformationstag in diesem Jahr haben Sie die Feierlichkeiten zum 75-jährigen Bestehen des Rats der lutherischen Kirchen im Vereinigten Königreich geleitet – was hat sich für Sie bei den verschiedenen Veranstaltungen besonders abgehoben?  

Ja, das war ein unvergessliches Ereignis. Neben vielen aktuellen und früheren Führungspersonen des CLC haben auch viele ökumenische Delegierte teilgenommen. Wir haben uns zum Beispiel sehr gefreut, dass die LWB-Vizepräsidentin für Europa, Landesbischöfin Kristina Kühnbaum-Schmidt, Grußworte überbracht und uns bestärkt hat, unsere Arbeit auf nationaler und internationaler Ebene fortzusetzen.   

Ich selbst durfte in einem Festgottesdienst in der norwegischen Gemeinde in London predigen und an Gesprächen über die Vergangenheit und Zukunft unseres Kirchenrats teilnehmen. Ein weiterer Moment, der mich und viele andere sehr bewegt hat, war die Segnung und Weihe einer Vielzahl von Bibeln; denn wir hatten die Mitgliedskirchen unseres Rats gebeten, Bibeln in den vielen verschiedenen Sprachen zur Verfügung zu stellen, die in unseren Gottesdiensten und Liturgien gesprochen werden.  

Was genau tun Sie als eine der Präsides von „Churches Together in England“?  

Als junge, nicht-ordinierte Frau ist es eine große Ehre, diese Funktion zusammen mit den anderen Präsidentinnen und Präsidenten, zu denen unter anderem der Erzbischof von Canterbury und katholische und orthodoxe Erzbischöfe zählen, erfüllen zu dürfen. CTE, also „Churches Together in England“, ist eines der größten ökumenischen Netzwerke hier bei uns im Land. Es vertritt christliche Kirchen aus einem breiten Spektrum – von den orthodoxen Kirchen bis hin zu den neusten christlichen Glaubensgruppen werden nach einer umfassenden und eingehenden theologischen Prüfung alle als Mitglieder aufgenommen.   

Es gibt sechs Kirchenfamilien oder -gruppen: Anglikaner, Orthodoxe, Katholiken, Pfingstkirchen und charismatische Kirchen, die freien Kirchen sowie unsere vierte Gruppe, zu der neben lutherischen Kirchen die Quäker und reformierten Kirchen zählen. Bei einer so breit gefächerten Mitgliedschaft kann es zuweilen schwierig sein, gemeinsame Standpunkte zu formulieren. Und dennoch kann es sehr eindrücklich sein und eine kraftvolle Botschaft senden, wenn die christlichen Kirchen mit gemeinsam formulierten Erklärungen zu wichtigen Themen mit einer Stimme sprechen.  

Worauf freuen Sie sich als Mitglied der LWB-Leitungsgremien?  

Eine spannende und großartige Erfahrung auf der Vollversammlung in Krakau für mich war, so viele Menschen aus ganz unterschiedlichen Kontexten zu erleben und von ihnen zu hören, was es ihrer Meinung nach in der heutigen Welt heißt, lutherisch zu sein. Das Thema „Ein Leib, ein Geist, eine Hoffnung“ war ein sehr wichtiges Thema, wo doch alle globalen Gremien derzeit darum ringen, ihre Einheit zu wahren, und sich mit den gleichen Fragen rund um die Hoffnung beschäftigen, nach der auch wir streben.  

Auf der vorbereitenden Tagung der europäischen Regionen zur Vollversammlung hat mich fasziniert, von Kirchen zu hören, die sich aufgrund sinkender Mitgliederzahlen neu strukturieren müssen. Ich hoffe, etwas beitragen zu können, weil ich in Deutschland ja erlebt habe, wie es ist, Teil einer Mehrheitskirche zu sein, und in Großbritannien erlebe, Teil einer Minderheitenkirche zu sein. Als Mitglied einer sehr kleinen Kirche, die aber trotzdem ein ausgeprägtes Identitäts- und Missionsbewusstsein hat, macht es mich stolz und zuversichtlich, dass die Kirche nicht einfach nur eine Struktur ist, die so viele Mitglieder wie möglich braucht. Sondern vielmehr die richtigen Menschen braucht, um sich für das Reich Gottes einzusetzen.  

LWB/P. Hitchen