Ukraine: “We just want the war to be over”

14. Nov. 2022

In Tschernihiw, einem Landkreis im Norden der Ukraine, der zwei Monate lang von russischen Truppen besetzt war, spüren die Familien immer noch die Auswirkungen der Invasion und der russischen Besetzung im Frühjahr.

Die 41-jährige Victoria Hlushko im ehemaligen Wohnzimmer ihres Familienhauses im Dorf Bil'machivka. Foto: LWB/Abin Hillert

Die 41-jährige Victoria Hlushko im ehemaligen Wohnzimmer ihres Familienhauses im Dorf Bil'machivka. Foto: LWB/Abin Hillert

LWB unterstützt Gemeinschaften nördlich von Kiew 

(LWI) – In der Ukraine ist humanitäre Hilfe in diesen Tagen auch ein Wettlauf gegen die Zeit.  Der Winter naht, und viele Menschen haben keine bewohnbaren Unterkünfte mehr. Russland zerstört mit seinen Angriffen weiterhin wichtige Infrastrukturen wie die Wasser- und Stromversorgung. Der Lutherische Weltbund hat in der Ukraine inzwischen eine funktionierende Katastrophenhilfe aufgebaut. Damit will der LWB 50.000 Menschen durch Bildungsangebote, Unterkünfte, sozialen Zusammenhalt sowie mentale und psychosoziale Betreuung unterstützen und auf die kalten Wintermonate vorbereiten.   

In der Oblast Tschernihiw, in der der LWB im Einsatz ist, leiden die Familien immer noch unter den Folgen der Invasion, die in ihren Häusern und Wohnungen keinen Stein auf dem anderen gelassen hat. Victoria Hlushko, 41 Jahre alt und Mutter zweier Söhne, gehört zu den vielen Betroffenen, deren Häuser nicht mehr bewohnbar sind. Als das russische Militär einmarschiert ist, wurde die Wohnung ihrer Familie in Bilmachivka im Distrikt Itschnja in der Oblast Tschernihiw zerstört.  

Auf dem Durchmarschweg der Invasoren  

„Ich habe diese Wohnung vor acht Jahren von meinem Vater geerbt“, sagt Victoria. „Mein Mann und unser Sohn und unsere Tochter haben seitdem hier gelebt. Das ist auch der Ort, wo ich groß geworden bin.“   

Victoria erinnert sich daran, dass sie gerade in ihre Wohnung gehen wollten, als eine Explosion das Gebäude erschütterte. Die Kämpfe zwischen den russischen und ukrainischen Streitkräften faden damals direkt auf der Straße vor dem Haus statt.   

Sie suchten in Keller des Hauses Schutz, aber als der durch die Explosionen verursachte Qualm in die Kellerräume eindrang, mussten sie sich durch eine Hintertür ins Freie retten und sich in einem anderen Gebäude in der Nähe in Sicherheit bringen.   

In Bilmachivka leben etwa 500 Menschen. Das Dorf lag auf dem Vormarschweg des russischen Militärs in Richtung Kiew in den ersten Tagen des Krieges. Viele Menschen haben in dieser Zeit ihre Wohnungen und Häuser verloren, da diese während der Angriffe und Kampfhandlungen schwer beschädigt oder dem Erdboden gleichgemacht wurden.  

„Zurzeit leben wir in einem alten Gebäude in einem anderen Teil des Dorfes“, sagt Victoria. „Ich mag hier nicht mehr allein hingehen, es fühlt sich furchtbar an, diesen Ort so zerstört zu sehen. Ich sehe höchstens einmal im Monat nach dem Rechten.“  

Jetzt, da der Winter naht und der Krieg sich weiter in die Länge zieht, gehe es ihr in erster Linie um das Wohl ihrer Kinder. „Ich möchte nur, dass meine Kinder gesund und in Sicherheit sind.“  

Kein Geld für den Wiederaufbau  

Etwas weiter die Straße hinunter stehen die Ruinen eines weiteren Familienhauses in Bilmachivka.    

Olena Vedmid hat hier mit ihrem Ehemann, ihrem 18 Jahre alten Sohn, ihrer 14 Jahre alten Tochter und vier Katzen gelebt - zwei der Tiere wurden getötet, als der Artilleriebeschuss das Haus in Trümmer gelegt hat.

Olena Vedmid und ihr fünfjähriger Kater Murchik besuchen das ehemalige Haus ihrer Familie im Dorf Bilmachivka. Foto: LWB/Albin Hillert

Olena Vedmid und ihr fünfjähriger Kater Murchik besuchen das ehemalige Haus ihrer Familie im Dorf Bilmachivka. Foto: LWB/Albin Hillert 

„Nicht weit von hier gibt es einen Bahnübergang, und unser Haus wurde zerstört, als dort gekämpft wurde“, sagt Olena. „Wir waren zu diesem Zeitpunkt bei meinen Schwiegereltern, deshalb sind wir unverletzt geblieben, aber zwei unserer Katzen sind gestorben.“  

„Jetzt leben wir bei Verwandten meines Mannes“, erzählt sie. „Wir wünschen uns ein Ende des Krieges, damit wir unser Haus wieder aufbauen können. Die Regierung hat gesagt, dass sie Menschen unterstützen wird, deren Häuser und Wohnungen zerstört wurden. Wir haben nicht das Geld, um den Wiederaufbau selbst zu bezahlen.“  

Der fünfjährige Kater Murchik sitzt auf den Stufen seines ehemaligen Zuhauses in Bil'machivka. Foto: LWB/Albin Hillert

Der fünfjährige Kater Murchik sitzt auf den Stufen seines ehemaligen Zuhauses in Bil'machivka. Foto: LWB/Albin Hillert

Beschuss und Zerstörungen  

In der Großgemeinde Itschnja, die aus 54 unterschiedlichen Dörfern besteht, wurden nach Aussagen der Kommunalverwaltung 26 Zivilisten getötet, als die russische Armee das Gebiet besetzt hat.   

Die 26 Jahre alte Anna und ihr jüngerer Bruder Sasha (14) aus dem Dorf Pryputni haben beide Eltern verloren.   

„Als die russischen Truppen hier einmarschiert sind, waren sie überall in unserem Dorf“, sagt Anna.   

Sie erinnert sich daran, dass sie 4 oder 6 Soldaten im Vorgarten ihres Hauses gesehen hat, und schätzt, dass etwa 200 russische Armeefahrzeuge in ihrem Dorf waren. Nach ihren Aussagen sind die ersten Fahrzeuge nur in das Dorf gefahren und haben es dann wieder verlassen, die nachfolgenden Panzer hätten jedoch angefangen zu schießen und Häuser im Dorf zerstört.

Anna und Sasha (deren Nachname auf eigenen Wunsch weggelassen wird) beschreiben, wie die Familie aus Pryputni floh, als russische Truppen ihr Dorf besetzten. Foto: LWB/Abin Hillert

Anna und Sasha (deren Nachname auf eigenen Wunsch weggelassen wird) beschreiben, wie die Familie aus Pryputni floh, als russische Truppen ihr Dorf besetzten. Foto: LWB/Abin Hillert

„Am 31. März sind wir mit dem Auto nach Bezborodkiv geflohen und dort über Nacht bei einigen Freunden geblieben. Dann haben wir gehört, dass die Armee wieder aus Pryputni abgezogen ist, und haben uns entschlossen, zurückzugehen. Aber das war unglücklicherweise der Moment, an dem wir unter Beschuss gerieten und unsere Eltern getötet wurden.“  

Anna erinnert sich daran, was sie und ihr Bruder in den vergangenen Monaten durchstehen mussten. „Ich glaube nicht, dass uns Menschen hier in der Ukraine helfen können, wenn sie nicht mit eigenen Augen sehen, was hier geschieht."   

Sie denkt einen Moment nach und ändert dann ihre Aussage. „Vielleicht ist es für die Menschen besser, wenn sie das hier nicht sehen.“

LWB/Albin Hillert. Deutsche Übersetzung: Detlef Höffken, Redaktion: LWB/A. Weyermüller