Tschechische Republik: Die Kirche als „Wegbereiterin des Wandels“

16. Apr. 2021
Janka Adameová ist Leiterin und Mitbegründerin der Internationalen Akademie für Diakonie und soziales Handeln, Mittel- und Osteuropa (interdiac). Foto: LWB

Janka Adameová ist Leiterin und Mitbegründerin der Internationalen Akademie für Diakonie und soziales Handeln, Mittel- und Osteuropa (interdiac). Foto: LWB

Im Interview: Janka Adameová, Direktorin von interdiac 

SCHLESIEN, Tschechische Republik/GENF (LWI) – Während ihrer Studien- und Ausbildungsjahre in der Slowakei hat Janka Adameová schnell erkannt, dass eine gute Bildung ein hohes Gut ist, dass aber der Austausch mit Menschen, die aufgrund ihrer Herkunft oder ihrer Lebensgeschichte einen völlig anderen Hintergrund haben, viel wichtiger ist.  Adameová, die sich heute in erster Linie für Gerechtigkeit einsetzt, ist Leiterin und Mitbegründerin der Internationalen Akademie für Diakonie und soziales Handeln, Mittel- und Osteuropa (interdiac). https://www.interdiac.eu/

interdiac ist eine Bildungsakademie, die die Mitgliedskirchen des Lutherischen Weltbundes (LWB) und die ökumenischen Partner bei der Vermittlung und Förderung bester Praktiken für diakonische Dienste in der Region unterstützt.

Adameová ist Mitglied der Evangelischen Kirche der Augsburger Konfession in der Slowakischen Republik.

Durch ihre Berufung und ihre Arbeit für interdiac setzt Jana Adameová das um, was sie schon früh im Leben gelernt hat, und bietet eine Lernumgebung für diejenigen an, die für die „geringsten Geschwister“ sorgen. (Matthäus 25)

Was motiviert Sie, sich für Gerechtigkeit einzusetzen? 

Mein innerer Ansporn ist es, Menschen eine Chance auf Bildung zu geben. Das ist auf den Einfluss meiner Eltern und Großeltern zurückzuführen. Ich erinnere mich an das, was mein Großvater mir erzählte, als ich noch jung war. „Die Schule kann dir etwas beibringen und dir einen guten Start ins Leben ermöglichen. Aber wichtig ist es, bei den Menschen zu sein, denn durch sie hast du die Chance, die Welt zu entdecken.“

Während des Kalten Krieges waren wir in unserer Bewegungsfreiheit ziemlich eingeschränkt. Aber als ich 13 Jahre alt war, gab es einen Regimewechsel, und die Welt stand mir auf einmal offen. Ich bekam gemeinsam mit anderen internationalen Studierenden ein Stipendium für ein Auslandsstudium. Im Rahmen des diakonischen Programms nahmen wir Quartier bei älteren Menschen, auch mit anderen jungen Erwachsenen, die mit Menschen am Rande der Gesellschaft arbeiteten. Meine Arbeit mit den Älteren hat mich gelehrt, was es bedeutet, schwach zu sein und um Hilfe zu bitten. Es hat mich berührt, wie die Gesellschaft mit dem Tod umgeht. Wie sich der Prozess des Sterbens darstellt, und wie wichtig es ist, einen Menschen zu begleiten, der im Sterben liegt. Das hat mich, so jung wie ich war, sehr beeinflusst. Es hat mir gezeigt, dass ich etwas zur Würde anderer Menschen beitragen kann.

Welchen Unterschied gibt es zwischen Diakonie und sozialer Arbeit? 

Vor zehn Jahren haben wir Gespräche mit Partnern von interdiac geführt – diakonischen Werken und den Kirchen. Wir wollten herausfinden, worin sich Menschen, die in glaubensgestützten Werken arbeiten, von denjenigen unterscheiden, die in anderen sozialen Einrichtungen beschäftigt sind. Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass ein auf Werten beruhender Ansatz der entscheidende Punkt ist, der unsere Arbeit einzigartig macht. Aus diesem Grund wird dieser Punkt in unseren Lernprogrammen zusätzlich zu den Fähigkeiten und theoretischen Kenntnissen berücksichtigt, die den Sozialarbeitern und Sozialarbeiterinnen vermittelt werden.

Eine wertebasierte Arbeit bedeutet, dass wir Spiritualität und Theologie zu einem festen Bestandteil des diakonischen Lehr- und Lernangebots machen. Wir handeln im Geiste der Hingabe und des Gebetes, und wir schauen auf die Bibel. Aus diesem Grund nähern wir uns dem Thema Armut nicht auf einer rein intellektuellen Ebene, sondern fragen auch, was uns die Bibel über unsere Aufgabe im Zusammenhang mit der Armut sagt. Es ist eine spirituelle Reflexion der interdiac-Beteiligten. 

Erklären Sie doch bitte das Bildungskonzept der interdiac. 

Unter der Leitung von Tony Addy, Mitbegründer von interdiac und Direktor der Bildungsabteilung, basiert unser didaktischer Ansatz auf der „Befreiungspädagogik“. Sie fußt auf der Arbeit des brasilianischen Philosophen und Pädagogen Paulo Freire und seinem Werk „Die Pädagogik der Unterdrückten.“ Innerhalb des Lernprozesses geht es uns darum, die aktive Mitwirkung und die Reflexionen der Teilnehmenden mit einzubinden und sie zu motivieren, eingefahrene Denkmuster zu überwinden, und sichtbare und unsichtbare Grenzen in Frage zu stellen, die den gesellschaftlichen Zusammenhang untergraben und die soziale Inklusion verhindern. 

Mit welchen Ungerechtigkeiten werden die Menschen in ihrer Region konfrontiert? 

Ein Problem ist die eingeschränkte Möglichkeit mancher Nationalitäten, Visa für die Tschechische Republik zu bekommen. Das hat sich darauf ausgewirkt, wen wir als Gastredner und Gastrednerinnen oder Dozenten und Dozentinnen für unsere Workshops einladen.

Auch Familien mit geringen Einkommen, die hohe Arbeitslosigkeit und Ungerechtigkeiten gegenüber den Roma und älteren Menschen sind ein Thema.   

Wie können Kirchen Diakonie praktizieren? 

Die Kirchen müssen sensibel auf die Zeichen der Zeit reagieren, dem prophetischen Ruf folgen und die Stimme derjenigen sein, die selbst keine Stimme haben. Sie müssen auch die Geschichten marginalisierter Menschen erzählen, die unter den Folgen zerstörter Systeme leiden. Die Kirche muss die Stimme in der Welt und in der Gesellschaft sein. Die Kirche kann der Wegbereiter des Wandels sein. Sie muss den Menschen die Hand reichen und durch ihre diakonischen Werke handeln.

 Welche Beziehung gib es zwischen dem LWB und Ihrer Arbeit?

Unsere Zusammenarbeit mit dem LWB hat im Jahre 2011 in Finnland mit dem ersten Workshop über Konvivenz begonnen. Wir haben Konvivenz definiert als „die Kunst und die Praxis des Zusammenlebens.“ Dabei haben wir im Rahmen des europäischen Diakonieprozesses zusammengearbeitet. https://www.lutheranworld.org/content/european-diaconal-process Nach der LWB-Vollversammlung 2017 in Namibia haben wir diesen Prozess fortgesetzt und uns dabei besonders dem Thema „Menschen unterwegs“ gewidmet. https://de.lutheranworld.org/de/content/menschen-unterwegs-strategien-fuer-den-umgang-mit-vielfalt-21 LWB-Mitgliedskirchen aus allen drei Regionen in Europa nehmen an diesem Prozess teil.  Wir haben soeben eine neue Phase der Zusammenarbeit eingeleitet und planen, die Ideen örtlicher Gemeinden und die Erfahrungen des „suchenden Konvivenz-Prozesses“ darin einzubinden. Wir planen weitere Aktivitäten in Partnerschaft mit dem LWB, darunter auch eine neue Website.

 

Stimmen aus der Kirchengemeinschaft:

Der Lutherische Weltbund (LWB) ist eine weltweite Gemeinschaft, deren Mitglieder sich gemeinsam für das Werk und die Liebe Christi in der Welt einsetzen. In dieser Reihe präsentieren wir Kirchenleitende und Mitarbeitende, die über aktuelle Themen sprechen und Ideen entwickeln, wie Frieden und Gerechtigkeit in der Welt geschaffen werden und die Kirchen und die Gemeinschaft in ihrem Glauben und ihrem Engagement wachsen können.

Von LWB/A. Gray. Deutsche Übersetzung: Detlef Höffken, Redaktion: LWB/A. Weyermüller