Schneidern und frisieren

18. Aug. 2017
Suhai Ismael Abuker mit einer Kundin in ihrem Friseursalon. Fotos: LWB/C.Kästner

Suhai Ismael Abuker mit einer Kundin in ihrem Friseursalon. Fotos: LWB/C.Kästner

LWB-Existenzgründungsprojekt unterstützt Langzeitflüchtlinge in Äthiopien

JIJIGA, Äthiopien/GENF (LWI) – „Wenn ich alles gelernt habe, werde ich eine Schneiderei aufmachen, um meine Familie zu ernähren“, sagt Faiza Mahmud Said. Die ältere Frau mit dem gelben Kopftuch schneidet unterschiedlich geformte Stücke aus weißem Papier. Es ist einer der ersten Tage der Schneiderausbildung für die somalischen Flüchtlinge im Flüchtlingslager Awubere bei Jijiga im Osten Äthiopiens. Mit den in diesem Workshop erworbenen Fähigkeiten sollen die Teilnehmenden in die Lage versetzt werden, sich eine unabhängige Einkommensquelle zu schaffen.

Awubere scheint ein von der Welt vergessener Ort zu sein: Zwei Flüchtlingslager, Awubere und Sheder, liegen diesseits und jenseits einer Gastgemeinschaft und eines Flusses, der nur in der Regenzeit Wasser führt. Die wasserarme Gegend befindet sich in der Nähe der Grenze zu Somalia. Die einzige gepflasterte Straße ist eine Aneinanderreihung von Checkpoints. Ansonsten scheint in dem Gebiet hauptsächlich eine somalische Züchtung kleiner schwarzer Schafen mit weißen Köpfen zu leben.

Langanhaltende Situation

Wie die meisten der 15.000 somalischen Flüchtlinge in den beiden Lagern ist Faiza Mahmud Said seit fast zehn Jahren hier. Die Situation der somalischen Flüchtlinge in Äthiopien findet nur wenig internationale Aufmerksamkeit und noch weniger finanzielle Unterstützung. Said gehört zu einer 21-köpfigen Familie.

Faiza Mahmud Said ist eine von 20 Frauen, die im LWB-Lehrgang das Schneidern erlernen.

Nahrungsmittel werden einmal im Monat verteilt. „Das Essen reicht nur für zwei Wochen“, sagt sie. Danach waschen wir als Tagelöhnerinnen für die Gastgemeinschaft Kleider oder heben Gräben aus. Unsere Kinder gehen zur Schule, aber es gibt hier keine Arbeitsmöglichkeiten für sie.“

Der Lutherische Weltbund (LWB) ist seit vier Jahrzehnten in Äthiopien präsent. Er kam 1973 auf Bitte der Äthiopischen Evangelischen Kirche Mekane Yesus (ÄEKMY) ins Land. Durch Projekte wie das in Jijiga zielt der LWB darauf ab, die Langzeitflüchtlinge und ihre Gastgeber mit einer Existenzgrundlage zu versorgen und ihre Abhängigkeit von Hilfsleistungen zu verringern. Darüber hinaus bietet das Projekt Ausbildung und Qualifikationen, von denen die Flüchtlinge profitieren, unabhängig davon wo sie in Zukunft leben mögen. Die Unterstützung und die Ausbildungsmöglichkeiten nützen auch Mitgliedern der Gastgemeinschaft, die direkt neben den Flüchtlingslagern wohnen.

Während viele Männer die Ausbildung zum Herrenfriseur wählen, entscheiden sich die meisten Frauen fürs Schneidern oder Frisieren. „Ich habe etwa 10 bis15 Kundinnen pro Woche“, sagt Suhai Ismael Abuker. Die 19-Jährige hat mit der Hilfe des LWB bei sich zuhause einen Kosmetik- und Frisiersalon eröffnet, weil die auf dem Marktplatz errichteten Friseursalons vorläufig keine Stromversorgung haben.

Fahd Mahmud Mohamed ist der einzige Mann im Lehrgang.

Eine abgeschlossene Ausbildung und Berufserfahrung

„Viele Kundinnen kommen am Monatsende, wenn die Rationen verteilt werden und die Familien wieder Geld haben“, sagt sie. Frisuren und Henna für Hochzeiten stehen hoch im Kurs. Im Lager ist es wie in jeder anderen äthiopischen Stadt: Kinder werden geboren, wachsen auf, heiraten und gründen neue Familien.

Wie Said unterstützt auch Abuker ihre Familie mit dem Geld, das sie verdient. Sie strebt an, ihren Betrieb vergrößern und eines Tages weitere Geschäfte zu eröffnen. Zurzeit stellt ihr Einkommen jedoch nur einen kleinen Beitrag zum Familienbudget dar. Die meisten ihrer Kundinnen wollen Henna-Tätowierungen – damit verdient sie pro verzierter Hand oder verziertem Fuß nur 50 Birr (weniger als 2 Dollar).

Keiner der Bewohner der Lager Awubere und Sheder rechnet mit einer schnellen Heimkehr. „Somalia ist nicht sicher, es ist nicht ein Ort, an den man zurückkehren kann“, sagt Yusuf Abdulrahman Hasan, ein junger Mann, der 2009 in Äthiopien ankam und sich jetzt beim LWB als Herrenfriseur ausbilden lässt. Als Jugendlicher war er vor den Bomben der Al-Shabaab-Miliz geflohen. Aus den Nachrichten weiß er, dass sich die Lage noch verschlechtert hat. Hasan hat vor, seine Zeit als Flüchtling dazu zu nutzen, eine abgeschlossene Ausbildung und Berufserfahrung zu erwerben, während er auf eine Möglichkeit zur Rückkehr wartet.

Alternativen zu einer gefährlichen Reise

Nicht alle sind so optimistisch. Da ihre Situation seit zehn oder mehr Jahren unverändert ist, träumen besonders die jungen Flüchtlinge davon, in die USA umgesiedelt zu werden. Diese Möglichkeit wird jedoch immer unwahrscheinlicher, und so sprechen sie darüber, einen anderen Weg zu nehmen: nach Libyen und von da aus übers Mittelmeer.

Nasra, die am Friseurlehrgang teilnimmt, vor ihrem Zuhause. Ihr Einkommen unterstütz eine 12-köpfige Familie.

„Wir wissen, dass es gefährlich ist“, sagt eine junge Frau. „Wir wollen es trotzdem wagen. Wir haben hier keine Zukunft, ohne Arbeit oder Geld.“ Ihre Tante ist nach Europa gegangen. Sie hat zuletzt von ihr gehört, als sie in Libyen angekommen war. Das war vor vier Jahren. Der Traum von einem besseren Leben im Norden ist stärker als das Wissen, dass jeden Sommer Tausende von Menschen auf der Reise nach Europa umkommen.

Das Existenzgründungsprojekt des LWB bietet auch denen, die fort wollen, eine Perspektive. „Es erkennt die Tatsache an, dass die Flüchtlinge, mit denen wir arbeiten, lange Zeit hier sein werden“, sagt Sophia Gebreyes, die LWB-Ländervertreterin in Äthiopien. „In dieser langwierigen Flüchtlingssituation bietet das Existenzgründungsprojekt auch ein festes Einkommen. Es ermöglicht den Familien, hier ein würdigeres Leben zu führen, und macht die gefährliche Reise nach Europa weniger attraktiv.“

Suhai Ismail Abuker, die junge Frau mit dem Kosmetik- und Frisiersalon, träumt bereits davon, in Addis Abeba, der äthiopischen Hauptstadt, ein Geschäft zu eröffnen. „Hier sehe ich Frieden“, sagt sie. „Wenn es eine Möglichkeit gibt, ja, dann werde ich bleiben.“

Das Existenzgründungsprojekt in Jijiga wird von der Abteilung für Bevölkerungsfragen, Flüchtlinge und Migration im US-Außenministerium (BPRM) finanziert. Das Projekt wird ab September 2017 um ein Jahr verlängert.