Kirchen in Mittel- und Osteuropa diskutieren lutherische Identitäten, Diversität und Pneumatologie

7. Nov. 2019
Teilnehmende der Konsultation für Kirchenleitende der Region Mittel- und Osteuropa 2019 nach dem Eröffnungsgottesdienst im Mariendom (Domkirche) in Tallinn. Foto: EELC/Joel Siim

Teilnehmende der Konsultation für Kirchenleitende der Region Mittel- und Osteuropa 2019 nach dem Eröffnungsgottesdienst im Mariendom (Domkirche) in Tallinn. Foto: EELC/Joel Siim

Kirchenleitungstagung bietet Raum für Überlegungen zu Kontexten, Herausforderungen und Hoffnungen

Tallinn, Estland/Genf (LWI) – Die Kirchen müssen dafür sorgen, dass die Gläubigen wie auch die Kirche selbst nicht im Privaten oder hinter Kirchenmauern versteckt bleiben und im öffentlichen Raum fehlen, betont Urmas Viilma, Vizepräsident für die Region Mittel- und Osteuropa beim Lutherischen Weltbund (LWB) und Erzbischof der Estnischen Evangelisch-Lutherischen Kirche, die die Konsultation für Kirchenleitende der Region Mittel- und Osteuropa 2019 ausgerichtet hat.

„Eine Kirchenleitungskonferenz ist für Mittel- und Osteuropa besonders wichtig, denn den Kirchen bieten sich nicht allzu oft Gelegenheiten, zusammenzukommen“, so LWB-Europareferent Pfr. Dr. Ireneusz Lukas. Auf den ersten Blick möge die Region relativ homogen wirken, doch unterscheide sich die Situation der einzelnen Kirchen und Länder erheblich.

Die Tagung mit dem Thema „Diversität und Identität – verschiedene Gaben, aber ein Geist (1. Kor. 12,4-6)“ fand vom 28. bis 30. Oktober in Tallinn (Estland) statt. In ihrem Rahmen setzten sich die Teilnehmenden mit der spezifischen Situation, den Herausforderungen und Hoffnungen wie auch den besonderen Gaben der Region auseinander, die sie auf der gesamteuropäischen Ebene wie auch in die weltweite Kirchengemeinschaft einzubringen hat.

Lutherische Identitäten

Im Zentrum der Tagung standen Präsentationen und Diskussionsrunden zu lutherischer konfessioneller Identität, Diversität und Pneumatologie (die Lehre vom Heiligen Geist).

Pfarrerin Anne Burghardt (Estnische Evangelisch-Lutherische Kirche) berichtete von der Tagung „We Believe in the Holy Spirit: Global Perspectives on Lutheran Identities“ (Wir glauben an den Heiligen Geist: Lutherische Identitäten aus weltweiter Perspektive), die kurz zuvor in Addis Abeba (Äthiopien) stattgefunden hatte. Die Tagung hätten viele Teilnehmende als sehr inspirierend und dynamisch empfunden.

Burghardt verwies auf das Studiendokument „Das Selbstverständnis der lutherischen Kirchengemeinschaft“ (2015), das betont, die Kirchengemeinschaft im LWB sei Gabe und Aufgabe zugleich. Auf der Grundlage ihrer Ausführungen befassten sich die Tagungsteilnehmenden aus pneumatologischer Perspektive mit der Frage: „Was bedeutet es heute, lutherisch zu sein?“ Ziel der Diskussion war die Sammlung von Überlegungen und Anstößen, die in einen Fragenkatalog einfließen sollen, mit dem in der nächsten Phase des Studienprozesses zu lutherischen Identitäten gearbeitet wird.

Burghardt führte die verschiedenen, bei der Konsultation diskutierten Themen zusammen und stellte aus ihrer persönlichen, durch die spezifisch regionale Erfahrung geprägten Sicht fest: „Dass unsere Kirchen unter dem Kommunismus leben mussten, gibt uns ein besonderes Erbe mit – unsere kritische Haltung gegenüber den gängigen ökumenischen Begrifflichkeiten von Frieden und Gerechtigkeit.“ Diese seien in der damaligen Zeit vielfach missbraucht worden. Daher stehe die Region vor der Herausforderung, diese Skepsis zu überwinden, damit sie sich aktiv für Wandel in der Gesellschaft einsetzen könne.

Bezüglich der Wechselbeziehung von Ekklesiologie (Lehre von der Kirche) und Pneumatologie (Lehre vom Heiligen Geist) merkte Burghardt an, aus ihrer Sicht betonten die Kirchen in Mittel- und Osteuropa zu stark den persönlichen Glauben auf Kosten der Gemeinschaft der Glaubenden, die miteinander ekklesia sind.

In einem dritten Abschnitt thematisierte die Referentin den Platz der Charismen und die Rolle des Heiligen Geistes in der lutherischen Theologie. Sie zeigte sich überzeugt: „Wenn wir es schaffen, eine fundierte Charismentheologie zu entwickeln, werden wir unserer lutherischen Überzeugung vom Priestertum aller Gläubigen viel tiefer gerecht werden können.“

Pfarrerin Dr. Elfriede Dörr (Evangelische Kirche Augsburgischen Bekenntnisses in Rumänien), die ebenfalls an der Konsultation in Addis Abeba teilgenommen hatte, würdigte die dort empfangenen Impulse und ermutigte die Mitgliedskirchen dazu, sie aufzugreifen und an der Befragung teilzunehmen, die der LWB auf der Grundlage der Tagungsergebnisse initiieren werde.

Kirche im öffentlichen Raum

Die Unterschiede und Diversität der Kirchen in der Region wurden unter anderem bei einer Podiumsdiskussion zum Thema „Kirche im öffentlichen Raum“ deutlich.

Bischof Jerzy Samiec (Evangelisch-Augsburgische Kirche in Polen) berichtete von der Situation im stark katholisch geprägten Polen und erläuterte, wie die lutherische Minderheitskirche gegenüber einer Regierung Position bezieht. „Polen ist in zwei Lager geteilt“, so Samiec. Auf der einen Seite das konservative, das derzeit an der Macht ist, und auf der anderen Seite eine vielfältige Opposition. Die Opposition ist überzeugt, dass mehrere Gesetzesvorlagen des Sejm – des Unterhauses des polnischen Parlaments – gegen die Verfassungsordnung Polens verstoßen. Diese Situation führt zu gewalttätigen Auseinandersetzungen.

Samiec ging auf das Dilemma der Kirche ein: Wann sollten Kirchenleitende solche Entwicklungen ansprechen und wann mischt sich die Kirche in die Politik ein? Ein Entscheidungskriterium sei der Schutz der schwachen, oft vielfältigen Minderheiten. Die zweite Maßnahme besteht darin, die Politiker davon zu überzeugen, dass sie sich an der politischen Debatte beteiligen sollten statt zu Streitigkeiten, Beleidigungen und Verleumdungen zu greifen. Samiec richtete einen solchen Appell an den polnischen Präsidenten Andrzej Duda und sagte, dass Politiker, die sich gegenseitig mit Hassrede überziehen, die Gesellschaft negativ beeinflussen. Der Tod des Bürgermeisters von Gdańsk, Paweł Adamowicz, zu Beginn des Jahres war ein Ausdruck dieser Eskalation. Das letzte Kriterium ist, klar zu sagen, dass die Verkündigung des Evangeliums eine Botschaft der Liebe ist. „Aggression und Hassrede unter dem Banner der Verteidigung der Kirche oder Christi ist kein Christentum“, ist Samiec überzeugt.

Dr. Klára Tarr Cselovszky (Evangelisch-Lutherische Kirche in Ungarn) beschrieb ihrerseits die vorsichtigen Schritte in den öffentlichen Raum hinein, die ihre kleine Kirche nach dem Ende des Eisernen Vorhangs 1989 unternahm. Zuvor gab es für die Kirche keinerlei Raum in der Öffentlichkeit. „Wir haben unsere Präsenz in den Bereichen Diakonie und Bildung aufgebaut, in kritischer Solidarität mit Staat und Gesellschaft“, erläuterte sie. „Dazu ist es sehr wichtig, glaub- und vertrauenswürdig zu sein.“ Allerdings müssten die Probleme der Vergangenheit aufgearbeitet werden. Zu diesem Zweck wurde eine Kommission eingerichtet, die Verflechtungen der Kirche mit Staatsorganen wie etwa der Geheimpolizei zur Zeit des Kommunismus aufdecken soll.

Mit einem Anteil von 34 Prozent an der Gesamtbevölkerung ist die Evangelisch-Lutherische Kirche Lettlands die größte Religionsgemeinschaft im Land. Angesichts dieser Tatsache sieht sich ihr Erzbischof Jānis Vanags vor die grundlegende Frage gestellt, inwieweit sich die Kirche im politischen Leben einer Gesellschaft engagieren sollte. Seine Kirche erlebte unter der Sowjetherrschaft Unterdrückung und Verfolgung – bis zu 80 Prozent der Geistlichen wurden deportiert oder ermordet. Seit 1987 engagierte sich eine Bewegung mit dem Namen „Neugeburt und Erneuerung“, der Vanags angehörte, für die Befreiung der Kirchen vom sowjetischen Einfluss. Heute habe die Kirche Zugang zum öffentlichen Raum und genieße, so Vanags, hohe öffentliche Anerkennung. Dies bringe neue Herausforderungen mit sich. So habe sich Vanags aus Protest gegen staatliche Korruption gar einmal geweigert, wie sonst üblich bei dem jährlich stattfindenden feierlichen Gottesdienst anlässlich des Gedenkens an die Einberufung der Verfassungsgebenden Versammlung zu predigen.

Theologische Ausbildung und Pfarrberuf

Die Ausbildung von Pfarrerinnen und Pfarrern stellt die Region vor dringende Aufgaben, die sich jedoch aufgrund der Sprachenvielfalt, der geringen Größe der Kirchen und der unterschiedlichen kontextuellen Bedingungen sehr komplex gestalten. Im Anschluss an einen Besuch im Tallinner Theologischen Institut gaben Pfarrerin Dr. Elfriede Dörr (Evangelische Kirche Augsburgischen Bekenntnisses in Rumänien), Dr. Jerzy Sojka (Evangelisch-Augsburgische Kirche in Polen) und Dr. Anton Tichomirow (Bund der Evangelisch-Lutherischen Kirchen in Russland und anderen Staaten) Einblicke in die Ausbildungssituation in ihren jeweiligen Kirchen. Auf dieser Grundlage diskutierten die Tagungsteilnehmenden Möglichkeiten für die Intensivierung der Zusammenarbeit in der Region und mit anderen Partnern sowie für die Nutzung neuer elektronischer Lehrmethoden.