Indigene Völker beschäftigen sich mit Ökonomie des Lebens

30. Apr. 2021
Indigene Gemeinschaften nehmen an einer Demonstration während des Welt-Klimagipfels COP22 in Marrakesch teil. Foto: Ivars Kupcis/ÖRK

Indigene Gemeinschaften nehmen an einer Demonstration während des Welt-Klimagipfels COP22 in Marrakesch teil. Foto: Ivars Kupcis/ÖRK

Webinar untersucht Spiritualität, Nachhaltigkeit und Kampf um Selbstbestimmung indigener Gemeinschaften

GENF (LWI) – Führungspersonen von indigenen Völkern aus aller Welt – vom nördlichen Polarkreis bis zum Amazonas-Regenwald, vom Südosten der USA bis zu den abgelegensten Stammesgebieten in Papua, Neuguinea – sind am 22. April zu einem Webinar zusammengekommen, um sich mit der Frage zu beschäftigen, wie der Kapitalismus, die Kolonialisierung und das Christentum zur Marginalisierung und Ausbeutung ihrer Gemeinschaften beigetragen haben. Christinnen und Christen von heute seien aufgerufen, diesen Gemeinschaften zuzuhören, von ihnen zu lernen und solidarisch an ihrer Seite zu stehen, wenn sie ihre nachhaltigere Vision von einer neuen Ökonomie des Lebens vorlegen.

Das Webinar hatten der Lutherische Weltbund (LWB), der Ökumenische Rat der Kirchen, die Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen, der Weltrat Methodistischer Kirchen und der Rat für Weltmission gemeinsam organisiert und ausgerichtet. Die Zielsetzung, sich die indigenen Sichtweisen zu den Themen Spiritualität und alternative Lebensweisen anzuhören, ist Teil der Arbeit der Initiative für eine neue internationale Finanz- und Wirtschaftsarchitektur (New International Financial and Economic Architecture, NIFEA), die 2021 schwerpunktmäßig unter der Überschrift „Living sufficiently and sustainably“ (in voller Genüge und nachhaltig leben) steht. Das Webinar war eine Nebenveranstaltung zur 20. Tagung des Ständigen Forums der Vereinten Nationen für indigene Angelegenheiten (UNPFII), die vom 19. bis 30. April stattfindet. Diese 20. Tagung hat das Thema „Peace, justice and strong institutions: the role of indigenous peoples in implementing Sustainable Development Goal 16“ (Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen: Die Rolle indigener Völker bei der Umsetzung des Nachhaltigen Entwicklungsziels 16).

Moderiert wurde der im virtuellen Raum möglich gemachte Austausch über das Thema „Indigenous Peoples and the Economy of Life: Spirituality, Land and Self-Determination (indigene Völker und die Ökonomie des Lebens: Spiritualität, Land und Selbstbestimmung) von Pfr. Chebon Kernell, dem Direktor der „Native American Ministries“ bei der Evangelisch-Methodistischen Kirche (USA). Er unterstrich, wie viele indigene Frauen und Männer aus vielen Teilen der Welt Gewalt erlebt, bedroht und sogar getötet wurden, „weil sie einfach nur nein gesagt haben“ zu Industrien, die ihre traditionellen Lebensweisen ausradieren wollen.

Sorge angesichts von „grünem Kolonialismus“

Die Podiumsrednerin Pfarrerin Mari Valjakka von der Evangelisch-Lutherischen Kirche Finnlands legte dar, inwiefern die Pläne, die als Lappland bekannte arktische Region zu erschließen, drohen, die Lebensgrundlage ihres Volkes, der Sámi, zu zerstören. Sie bevorzuge generell die Bezeichnung Sápmi für die in Finnland, Norwegen, Schweden und auf der russischen Halbinsel Kola gelegene Region, und erzählte, dass das Gebiet wohl als „umwerfendes Winterwonderland“, die Polarlichter und die Legenden vom Weihnachtsmann, der auf dem Rentier-Schlitten durch die verschneite Landschaft fährt, am bekanntesten sei.

„Der Tourismus ist unglaublich wichtig für uns“, sagte sie, „und insbesondere jetzt, wo Reisetätigkeit so eingeschränkt ist, leiden wir sehr.“ Aber der Tourismus und andere Formen der Erschließung des Gebiets müssten nachhaltig gestaltet werden, damit weder die Natur noch die traditionelle Lebensweise der Sámi gefährdet würden, nach der ihre Vorfahrinnen und Vorfahren über Jahrhunderte gelebt hätten. „Unsere Heimat ist keine Brachfläche oder Ödnis, die nur darauf wartet genutzt und ausgebeutet zu werden“, betonte sie. Vielmehr ist „diese Wildnis für uns heilige Natur, sie ist unser Zufluchtsort und Obdach, unsere Kirche, unser Zuhause, Quelle des Lebens für alle Geschöpfe Gottes, die hier leben“.

Sie übte Kritik an all jenen, die nur die natürlichen Ressourcen der Region ausbeuten wollen, und wies darauf hin, dass ihr Volk „unter großem Druck vonseiten verschiedener Bergbaugesellschaften und anderer groß angelegter Maßnahmen und Eingriffe steht“, wie zum Beispiel Windparks und der geplanten arktische Eisenbahnstrecke. „Es kann keine Klimagerechtigkeit geben, wenn nicht auch für indigene Völker Gerechtigkeit herrscht“, sagte sie und fügte hinzu, dass die Menschen Angst vor einem „grünen Kolonialismus“ hätten und einen Zusammenhang sähen zwischen „dem derzeitigen Trend hin zum Ausbau von erneuerbaren Energiequellen und den in der Vergangenheit erlebten Vorgängen der Enteignung und Unterjochung des Sámi-Volkes“.

Sprachliche, kulturelle und ökologische Nachhaltigkeit

Im Süden der Vereinigten Staaten von Amerika, in Gebieten, die als Alabama und Georgia bekannt sind, kämpft auch das Volk der Muscogee um sein Heimatland, seine Sprache und seine traditionellen Lebensweisen. Die Muscogee seien 1836 gewaltsam von ihrem angestammten Land vertrieben worden, erinnerte Marcus Briggs-Cloud, Co-Direktor eines ökologischen Dorfes namens Ekvn-Yafolecv, das sich dem Erhalt der Sprache, Kultur und der ökologischen Nachhaltigkeit verschrieben hat. Die Einwohnerinnen und Einwohner dieses Dorfes lebten abgekoppelt vom Versorgungsnetz in einer Gemeinschaft, die sich alles Einkommen teile; sie setzten natürliche Bauweisen ein, nutzten erneuerbare Energie und betrieben regenerative Landwirtschaft als „ein Akt des Widerstands“ gegen die kapitalistische Kultur, sagte er.

„Unsere Sprachen werden obsolet, weil wir keine Wörter für kapitalistische Konzepte und Vorstellungen haben, die dem traditionellen Ethos unserer Vorfahrinnen und Vorfahren widersprechen“, führte Briggs-Cloud aus. Anstatt zu versuchen „sich anzupassen“ und „unsere Sprache zu übertünchen“, versuchen die Bewohnerinnen und Bewohner des ökologischen Dorfes „eine Gesellschaft wiederherzustellen, in der unsere Sprache am besten funktioniert“, sagte er. Weiterhin praktizierten sie die alljährlichen traditionellen Zeremonien, die notwendig sind, „um unsere Beziehungen mit der natürlichen Welt zu erneuern“, erklärte er.

Die Podiumsteilnehmerin Elvira Rumkabu, die sich für die Belange der indigenen Bevölkerung Papuas einsetzt, berichtete über den Kampf um Gerechtigkeit und Selbstbestimmung ihres Volkes in der indonesischen Provinz Westpapua, wo der Konflikt mit der Regierung bereits seit den 1950er Jahren anhält. Viele indigene Völker seien von ihrem Land geflohen, um der Gewalt zu entkommen, erklärte sie, aber „die Menschenrechtsverletzungen gehen weiter und gefährden das Leben vieler Menschen sogar in ihren eigenen Häusern“.

Überlebensgeschichten 

Westpapua habe einen großen Reichtum natürlicher Ressourcen, berichtete Rumkabu, aber dieser Reichtum sei „ein Segen und ein Fluch zugleich“, weil die indigene Bevölkerung nur sehr begrenzt Kontrolle und Zugang zu diesen Ressourcen habe. Die indigenen Gemeinschaften hätten die höchste Müttersterblichkeitsrate in Indonesien und auch in Bezug auf Analphabetentum und HIV-Infektionen sei der Anteil überdurchschnittlich hoch. Verschärft würden die Probleme noch durch „von oben auferlegte“ Maßnahmen der indonesischen Regierung bei der Infrastrukturentwicklung, die dazu führten, dass der indigenen Bevölkerung Land weggenommen würde, um Brücken und Straßen zu bauen.

Für die indigene Bevölkerung ginge es inzwischen in erster Linie ums Überleben, sagte Rumkabu und verwies in diesem Zusammenhang auf einen jüngst erschienenen Bericht von Greenpeace International mit dem Titel „License to Clear“ (Lizenz zum Kahlschlag) hin, in dem vor den verheerenden ökologischen Folgen gewarnt wird, falls Indonesien die Abholzung einer Fläche der zweifachen Größe Balis für die Palmölproduktion fortsetze. Ein großes Problem für die indigenen Gemeinschaften sei, dass die „traditionellen Philosophien und Praktiken auf Ablehnung stoßen“ mit der Begründung, dass „lokales Wissen als nicht geeignet erachtet wird für den Aufbau eines Nationalstaates“, erklärte sie.

Die Vertreterinnen und Vertreter der indigenen Bevölkerung in Asien, Afrika und Lateinamerika berichteten von den Schwierigkeiten, die Traditionen und das spirituelle Wissen, die seit Generationen immer weitergegeben werden, auch für künftige Generationen zu bewahren. Jocabed Solano, indigene Theologin und Aktivistin vom Volk der Gunadale in Panama, berichtete, dass die katholische und die protestantischen Kirchen zur „spirituellen Kolonialisierung“ ihres Volkes beitrügen und Bemühungen unterstützten, sie zu „zivilisieren“, indem ihre Sprache, ihre traditionelle Art, sich zu kleiden, und ihre traditionellen Zeremonien unterdrückt würden. 

Von der Kolonialisierung hin zur Ermächtigung der Gemeinschaften

„Nicht alle Christinnen und Christen stehen hinter den kolonialistischen Ideologien“, sagte sie weiter, aber „auch heute noch erleben wird, dass einige theologische Institutionen Angehörige der indigenen Bevölkerung unterdrücken“. Kolonialismus, Kapitalismus und Christentum sind übergreifende Themen, führte sie aus, und „es ist wichtig, einzusehen und anzuerkennen, dass in allen Bereichen des Lebens Selbstbestimmung herrschen muss“. Wir müssen uns gegen das Aufzwingen einer „Wahrheit“ und das Aufzwingen von „Wissen“ wehren, sagte sie, denn „die Menschen unserer Völker wissen, wie man in Harmonie mit Mutter Erde leben kann“.

Auch der Journalist Leonardo Tello, der einen Radiosender in der Amazonasregion Perus betreibt, berichtete, inwiefern Kolonialismus, Christentum und die kapitalistischen Ideologien für das Volk der Kukama in seiner Heimat miteinander verknüpft seien. Als der Kautschukboom im 19. Jahrhundert begann, erzählte er, „agierte die Kirche als Komplizin beim gewaltsamen Eindringen des Kapitalismus“. Die Kolonialmächte haben nicht verstanden, „was die ausgeglichenen Beziehungen für unser Volk über hunderte von Jahren bedeutet hatten“ und dass die Spiritualität der indigenen Bevölkerung Pflanzen, Vögel, Fische und Tiere als Lebewesen verstehe, erklärte er.

Nationalstaaten „beharren auf ihrem Konzept des Hoheitsgebiets, demzufolge die Erde, das Land, die Luft ihnen gehört“, sagte er weiter. Aber „das Verständnis von uns indigenen Völkern geht über Grenzen, Staatsgrenzen, das Verständnis von Besitz oder Dokumente, die jemanden zum Besitzer von einem bestimmten Bereich machen, hinaus“. Es ist unerlässlich, dass Christinnen und Christen sich für die Art und Weise öffnen, wie indigene Bevölkerungsgruppen die Welt sehen und verstehen, einschließlich der harmonischen Beziehungen zur Mutter Erde – bzw. zur „Mutter Fluss“ für diejenigen, die im Amazonasgebiet lebten, betonte er. 

Der anglikanische Bischof Rex Reyes von den Philippinen, der als erster Vertreter der indigenen Bevölkerung Generalsekretär des nationalen Kirchenrates in seinem Land war, formulierte zum Abschluss einen Appell an die Kirchen, „Plattformen für die indigene Bevölkerung zu werden, um ihre Geschichte zu erzählen und ihre Sorgen anzusprechen“. Als Institutionen, die für die „Ermächtigung von vulnerablen und marginalisierten Menschen“ stünden, sagte er, sollten die Kirchen den indigenen Gemeinschaften „zuhören und von ihnen lernen“ und in ihrem Bemühen, ihrer Stimme Gehör zu verschaffen, solidarisch an ihrer Seite stehen.

Sivin Kit, LWB-Programmreferent für Öffentliche Theologie und Interreligiöse Beziehungen, bekräftige den Aufruf von Bischof Reyes an die Kirchen: „Wir brauchen die Mitwirkung und das Wissen der indigenen Völker. Unser öffentliches Zeugnis verlangt scharfe Kritik in Kombination mit konstruktiven und ganzheitlich gedachten Vorschlägen für den vor uns liegenden Weg. Beides gehört dazu, wenn wir eine transformierende Vision und Realität eines Lebens und volle Genüge für alle mitgestalten wollen.“

Von LWB/P. Hitchen. Deutsche Übersetzung: Andrea Hellfritz