Die Aufgabe, den Nächsten in Not zu helfen

20. Dez. 2019
Deborah Hutterer ist Bischöfin der Synode Grand Canyon in der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Amerika. Foto: LWB/A.Weyermüller

Deborah Hutterer ist Bischöfin der Synode Grand Canyon in der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Amerika. Foto: LWB/A.Weyermüller

Interview mit Deborah Hutterer, Bischöfin in der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Amerika

PHOENIX, USA/GENF (LWI) – Pfarrerin Deborah Hutterer ist im September 2018 zur Bischöfin der Synode Grand Canyon gewählt worden. Zu dieser Synode zählen Gebiete in den US-Bundesstaaten Nevada, Utah und Arizona. In Arizona, das an der Grenze zu Mexiko liegt, leistet die Evangelisch-Lutherische Kirche in Amerika (ELKA) Hilfe für Migrantinnen und Migranten. Im Interview mit der Lutherischen Welt-Information spricht Hutterer über diese Hilfe, über populistische Stimmungsmache und darüber, offen für Veränderung sein zu müssen.

Wie erleben Sie die Migrationsbewegungen an den Grenzen der USA?

Bevor ich zur Bischöfin gewählt worden bin, habe ich für den Lutheran Social Services (LSS) gearbeitet, also den Sozialdienst der ELKA. Die Regierung hatte den LSS gebeten, bei der Zusammenführung von Migrantenfamilien zu helfen, die an der Grenze zwischen den USA und Mexiko voneinander getrennt und dann einzeln inhaftiert worden waren. Als das öffentlich bekannt geworden war, war die Regierung gerichtlich verpflichtet worden, alle diese Familien wieder zusammenzuführen.

Wenn sie dann bei uns ankamen, hatten Eltern und Kinder sich erst ein paar Stunden oder in einigen Fällen sogar nur ein paar Minuten zuvor wiedergesehen. Wir haben versucht, einen sicheren Raum zu bieten, der gleichzeitig einigermaßen einladend und freundlich sein sollte, und haben Pfarrerinnen und Pfarrer, die Spanisch sprechen, gebeten, dort zur Verfügung zu stehen. Ich erinnere mich noch sehr gut an eine Mutter, die ihr Kind gerade erst wieder in die Arme geschlossen hatte. Sie wollte es überhaupt nicht wieder loslassen. Aber als sie sich dann mit dem Pfarrer unterhielt, kam das Kind hinter der Mutter hervor, zupfte den Pfarrer am Ärmel und fragte: Herr Pfarrer, wo sind Sie gewesen? Ist das nicht genau die Frage, die wir uns als Kirche stellen müssen: Wo sind wir gewesen?

Wie haben Sie diese Arbeit dann als Bischöfin der Synode Grand Canyon fortgeführt?

Als der Einwanderungs- und Zollermittlungsdienst der USA [Immigration and Customs Enforcement – ICE] im letzten Sommer tausende Migrantinnen und Migranten in Phoenix (Arizona) quasi auf der Straße aussetzte, haben wir abends die Türen unserer Kirchen geöffnet, damit diese Menschen wenigstens einen sicheren Ort zum Schlafen hatten, etwas essen und dann irgendwie die Reise zu ihren Verwandten in anderen Teilen der USA antreten konnten.

Inzwischen wurden die Gesetze geändert und die Rechtslage ist eine andere: Es darf niemand mehr in die USA einreisen, wenn er oder sie vorher ein anderes Land durchquert hat. Alle, die zum Beispiel aus El Salvador, Honduras oder Guatemala kommen, müssen also in Mexiko eine Einreiseerlaubnis beantragen.

Daher unterhalten die lutherische und die episkopale Kirche in Nogales (Mexiko) einen gemeinsamen Hilfsdienst, wo Menschen eine Unterkunft finden können, während sie auf ihre Befragung für die Einreiseerlaubnis warten. Für bis zu 70 Personen ist dort Platz, und die Menschen bleiben jeweils fünf bis sechs Wochen. Wir sorgen dafür, dass sie während dieser Zeit des Wartens menschlich behandelt werden und in Sicherheit sind. Manche Menschen versuchen Drogenkartellen oder Menschenhandel und Zwangsprostitution zu entkommen. Und natürlich hat jeder und jede Einzelne von ihnen seine eigene Geschichte. Wir wissen, dass einige dieser Menschen aus Angst vor Gewalt Asyl beantragen.

Während wir also versuchen, das System in unserem Land zu kitten, stehen Leute vor uns und brauchen dringend unsere Hilfe. Gott stellt uns vor die Aufgabe, unserem Nächsten in ihrer Not zu helfen.

Wie reagieren die Ortsgemeinden auf diese Arbeit?

Ich glaube, der persönliche Austausch mit Migrantinnen und Migranten hilft den Menschen zu verstehen, dass sie gar nicht so anders sind als wir. Manche Menschen mit politischen Ämtern erzählen uns gern, dass Menschen, die um Asyl bitten oder in unser Land immigrieren wollen, Terroristen oder Drogendealer sind. Der persönliche Kontakt mit den Migrantinnen und Migranten hilft dabei, zu verstehen, dass wir alle Menschen sind und dass humanitäre Hilfe notwendig ist.

Wir planen, Menschen aus den USA zu Begegnungen über die Grenze nach Mexiko mitzunehmen, damit sie die Vorurteile, die sie im Kopf haben, hinterfragen können. Wir wollen ihnen gute und fundierte Informationen vermitteln. Und dann hoffen wir, dass sie in ihren Heimatgemeinden darüber berichten, was sie gesehen und gehört haben.

Wie wird die Arbeit mit Flüchtlingen und Migranten finanziert?

Lutherische Gemeinden in Nevada und Arizona haben Geld, Kleidung, Schuhe und sogar Spielzeug gesammelt, damit wir den Menschen helfen und die Zeit, die sie auf ihre Befragung für die Einwanderung warten müssen, für sie etwas angenehmer gestalten können. Die Migrantinnen und Migranten haben oftmals nur das bei sich, was sie am Leib tragen. Das Geld wird für die Miete der Räumlichkeiten in Mexiko und für den Einkauf von Nahrungsmitteln verwendet. Ortsgemeinden und Einzelpersonen, die ein Herz für diese Art des Dienstes haben, spenden der Synode Geld, das direkt in die Hilfsprojekte fließt.

Welche Auswirkungen haben Populismus und Hassrede auf Ihre Kirche?

Es ist durchaus eine schwierige Zeit. Verschiedene Pfarrerinnen und Pfarrer haben mir berichtet, dass möglicherweise alles, was sie sagen, als politische Äußerung verstanden werden kann, und dass die Menschen dann sauer werden. Als die ELKA beschlossen hat, eine Kirche der Zuflucht und des Schutzes zu werden, sind viele Menschen ausgetreten. Ich hoffe und bete aber, dass auch neue Menschen eingetreten sind oder eintreten werden, weil die Kirche für genau diese Dinge steht.

Darüber hinaus müssen wir uns ein wenig in Demut üben und anerkennen, dass wir nur einen kleinen Teil von einem Bild sehen, das in Wahrheit sehr komplex und vielschichtig ist. Nur wenn wir miteinander reden, werden wir einen besseren Eindruck von dem gesamten Bild bekommen können. Ich versuche, mich an Fakten zu halten, und Räume zu schaffen, in denen wir voneinander lernen und verstehen können, dass es völlig in Ordnung ist, wenn wir uns nicht immer einig sind, aber dass wir uns trotzdem mit Respekt begegnen müssen.

Welchen Einfluss hat es auf Ihre Arbeit, dass Sie Teil der weltweiten LWB-Gemeinschaft sind?

Es war für mich eine große Ehre, in Genf und Wittenberg an der Klausurtagung des LWB für neugewählte Kirchenleitende teilnehmen zu dürfen. Ich bin zwar sehr anders als beispielsweise meine Kollegen aus Indien, Korea oder Ghana, aber gleichzeitig sind wir uns alle sehr ähnlich. Die ELKA ist eine reiche Kirche, aber wir haben die gleichen Probleme wie die Kirchen, denen viel weniger Finanzmittel zur Verfügung stehen. Zu verstehen, dass wir alle zusammen die Kirche ausmachen, erweitert das eigene Verständnis dafür, was es heißt eine weltweite Kirche zu sein.

Ich hoffe auch, dass das Zusammentreffen mit Kollegen, die Zweifel haben, ob Frauen ordiniert werden sollten, sie vielleicht zum Nachdenken bringt und sie erkennen, dass auch weiblich Geistliche ein Geschenk für die Kirche sind. Außerdem empfinde ich es als sehr hilfreich, die Themen herauszustellen, die uns dabei helfen, zusammen wirklich der eine Leib Christi zu sein: Gendergerechtigkeit, Klimagerechtigkeit, Bewahrung der Schöpfung, Zuwanderung, Flüchtlinge.

Viele Kirchenleitende möchten junge Menschen ansprechen. Was tun Sie diesbezüglich?

Im Großen und Ganzen fehlt den Menschen, glaube ich, einfach die Zeit. Es gibt so viele Dinge, mit denen sie ihre Zeit verbringen könnten. Wir müssen uns überlegen, wie wir den Sonntagsgottesdienst mit dem Alltag der Menschen verknüpfen. Junge Menschen suchen nach genau dieser konkreten und realitätsbezogenen Verbindung zwischen dem Evangelium und der Welt da draußen. Deshalb sind die Debatten über das Priestertum aller Gläubigen und die praktische Anwendung des Glaubens im täglichen Leben in meinen Augen so wertvoll.

Und wir dürfen uns nichts vormachen: Wenn wir sagen, dass alle willkommen sind, werden uns die Menschen, die dann kommen, verändern. Viel zu oft laden wir Menschen zu uns ein und erwarten dann, dass sie werden wie wir. Wenn wir aber weiterhin den Kontakt zu Menschen suchen, die nicht über 70 Jahre alt und weiß sind, und diese in unsere Kirchen bringen wollen, werden wir einfach eine andere Kirche werden. Das im Kopf zu behalten, wird sehr hilfreich sein, glaube ich.

Was bedeutet es für Sie, in der heutigen Welt Kirche zu sein?

Das ist ganz einfach! Natürlich geht es auch um die Verkündigung des Evangeliums – wir müssen in unseren Taten und Worten Zeugnis ablegen für Jesus Christus. Es gibt viele Kirchengemeinden, sie sich sozial sehr engagieren, aber wir vergessen oft zu sagen, warum wir das tun: weil Gott uns liebt und wir unsere Nächsten lieben. Eines meiner Lieblingsbücher in der Bibel ist die Apostelgeschichte, denn die ersten christlichen Kirchen erzählen, warum sie tun, was sie tun.

Manchmal bedeutet Kirche sein, Altes loszulassen und darauf zu vertrauen, dass Gott etwas Neues schaffen wird. Das macht ein bisschen Angst, denn wir alle wissen nur das, was wir eben wissen, und müssen dann auf Gott vertrauen. Kirche zu sein bedeutet, nach diesen neuen Dingen, die Gott schafft, Ausschau zu halten und darauf hinzuweisen.

 

Stimmen aus der Kirchengemeinschaft:

Der Lutherische Weltbund (LWB) ist eine weltweite Gemeinschaft, deren Mitglieder sich gemeinsam für das Werk und die Liebe Christi in der Welt einsetzen. In dieser Reihe präsentieren wir Kirchenleitende und Mitarbeitende, die über aktuelle Themen sprechen und Ideen entwickeln, wie Frieden und Gerechtigkeit in der Welt geschaffen werden und die Kirchen und die Gemeinschaft in ihrem Glauben und ihrem Engagement wachsen können.