Das lebendige Wort Gottes: von der Frühkirche lernen

9. Dez. 2022

In unserem dritten Bibeljahr-Webinar erkunden wir, auf welche Weise christliche Gemeinden aufs Neue aus der Bibel lernen können und wie sie Teilungen überwinden sowie Unterschiede nutzen können, um den Leib Christi zu bilden.

 

Bible Year 3 lecturers

Kayko Driedger Hesslein, assoziierte Studiendekanin und Leiterin der kontextbezogenen Ausbildung am Evangelisch-Lutherischen Theologischen Seminar in Kanada, und Sin Pan Ho, Professor für das Neue Testament und Dekan der weiterführenden Studien am Evangelisch-Lutherischen Theologischen Institut in Hongkong. Fotos: Hiro Hesslein und das Evangelisch-Lutherische Theologische Seminar, Hongkong

Professoren aus Hongkong und Kanada stellten ihre Erkenntnisse vor, wie man sich in der Vergangenheit und Gegenwart auf Bibeltexte eingelassen hat bzw. einlässt.

(LWI) – Wie haben die frühchristlichen Gemeinden auf die neu verfassten Bibeltexte reagiert? Wie können wir diese Texte den verschiedenen Zielgruppen besser zugänglich machen? Und wie kann die Bibel als Einheit stiftende Kraft wirken, statt Ursprung für Spaltung und Auseinandersetzung zu sein? So lauteten die Schlüsseldiskussionsthemen während des dritten Webinars der vierteiligen Webinarreihe zum 500. Jahrestag des Septembertestaments, wie Martin Luthers wegweisende Übersetzung aus der griechischen in die deutsche Sprache genannt wird.

Sin Pan Ho, Professor für das Neue Testament und Dekan der weiterführenden Studien am Evangelisch-Lutherischen Theologischen Institut in Hongkong, sprach von der Notwendigkeit einer „Zeitreise zurück ins 1. Jahrhundert“, um das kulturelle Umfeld zu verstehen, in der die Menschen erstmals das Wort der Evangelien gelesen und empfangen haben. Er merkte an, dass die Bücher des Neuen Testaments innerhalb eines Zeitraumes von einhundert (oder möglicherweise auch zweihundert) Jahren zu einer Zeit verfasst wurden, in der die Menschen in einer polytheistischen Kultur unter römischer Herrschaft lebten.

In den städtischen Gebieten, in denen die Menschen zu vielen verschiedenen Göttern beteten, so Ho, war der Apostel Paulus einer der ersten, der das Potenzial der neuen Schriften erkannte; nicht nur als Studien- und Diskussionsgegenstand, sondern als Werkzeug, das „eine neue soziale Identität formen“ konnte. Er betonte, dass die Bücher des Neuen Testaments das Vorbild Jesu nicht nur als eine Gottheit unter vielen anboten, sondern als Antwort auf die Fragen der Menschen nach dem Königreich Gottes.

Spaltungen überwinden, gemeinsame Ziele finden

Als Ho über die Auseinandersetzungen um die biblischen Schriften in der Frühkirche sprach, sagte er, es sei wichtig, die frühchristlichen Gemeinden in ihren Bemühungen zur Überwindung ihrer Spaltungen nachzuahmen. In früheren Jahrhunderten, führte er aus, sah man in den Schriften eher eine „Art Verfassung für das himmlische Volk Gottes“ als „nur einen von vielen unterschiedlichen Orientierungspunkten“, so wie dies viele Gläubige in der heutigen Zeit tun.

In der Frühkirche, in der viele Menschen wegen ihres Glaubens verfolgt wurden, gab es ein Dringlichkeitsbewusstsein, das heute fehlt, stellt Ho fest. Er betonte die Notwendigkeit, die Ideologien hinter uns zu lassen und Wege zu finden, „das Wort Gottes gemeinsam zu praktizieren.“ Zwar mag es verschiedene Auslegungen der Schriften geben, aber „wir müssen ein gemeinsames Ziel finden und unsere Unterschiede als Motivation nutzen, um gemeinsam eine Lösung zu erarbeiten.“

Kayko Driedger Hesslein, assoziierte Studiendekanin und Leiterin der kontextbezogenen Ausbildung am Evangelisch-Lutherischen Theologischen Seminar in Kanada, sprach davon, wie wichtig es sei, den Zugang zur Bibel für Menschen aus allen Gesellschaftsschichten zu erleichtern und inklusiver zu gestalten. Es gibt viele Möglichkeiten, das Wort Gottes zu erfahren, sagte sie, auch für die, die nicht hören können oder die geschriebenen Texte nicht sehen oder lesen können.  

Unterschiede als Geschenk, um den Leib Christi zu bilden

„Barrierefreiheit ist eine Frage der Gerechtigkeit!“, betonte sie, sowohl für diejenigen mit körperlichen Behinderungen als auch für diejenigen, die sich durch in den Schriften verwendete Wörter emotional oder spirituell „verletzt und ausgeschlossen“ fühlen. Wenn wir die Bibel für eine größere Zielgruppe zugänglicher und attraktiver machen wollen, fügt sie hinzu, ist es wichtig, „uns zu fragen, was schutzbedürftige Menschen brauchen“ und als Reaktion auf ihre Bedürfnisse „unsere Sprache zu überdenken“.  

Wenn wir uns auf die Bibel einlassen, betonte Driedger Hesslein, schließen wir uns diesen „vielen Zeugen“ aus vergangenen Jahrhunderten an, so dass wir „niemals wirklich alleine“ sind. Es ist hilfreich, verschiedene Übersetzungen zu lesen, so fährt sie fort, um über die verschiedenen Möglichkeiten zur Auslegung der Schriften zu reflektieren. Während es in der Kirche viele Auseinandersetzungen über diverse Auslegungen der Bibel gab und noch immer gibt, sagt sie, „sind wir dazu aufgefordert, einander zu vertrauen und dem Geist in uns zu vertrauen.“ Sie fügte hinzu, dass wir nicht so ängstlich sein sollen und Unterschiede nicht als Ursache von Auseinandersetzungen, sondern als ein Geschenk ansehen sollten, um den Leib Christi zu bilden.“

Driedger Hesslein reflektierte über die Verantwortung des Pfarrers bzw. der Pfarrerin, die biblischen Texte für andere zu erschließen, und stellte fest, dass wir über „das lebendige Wort“ sprechen, das durch die Erfahrungen verschiedener Generationen in unterschiedlichen kulturellen Kontexten vermittelt wird. Gleichzeitig, sagte sie, ist es äußerst wichtig, „die allumfassende Botschaft der Bibel“ zu berücksichtigen und zu gewährleisten, dass eine Predigt immer auf „Gott hinweist“ und „Gottes Gnade inmitten der Realität der Sünde verkündet“.

Zum vierten und letzten Teil dieser Bibeljahr-Reihe, der am 10. Januar 2023 stattfinden wird, trifft sich der Moderator Szabolcs Nagy von der Evangelisch-Lutherischen Theologischen Universität in Budapest mit Schriftgelehrten, um das Thema „Living the Bible“ („Die Bibel leben“) zu erörtern.

LWF/P. Hitchen
Webinar – The Bible Year: Engaging the Bible