Brasilien: „Ich erzähle gerne vom LWB und seiner Geschichte“

4. Nov. 2022

Der LWB-Vizepräsident für die Region Lateinamerika und die Karibik, Nestor Friedrich, erzählt im folgenden Interview von Momenten aus seiner Zeit als LWB-Vizepräsident, die ihm immer in Erinnerung bleiben werden, und spricht über die Polarisierung in seiner Heimat und die Verantwortung der Kirche in diesem Kontext. 

Nestor Friedrich, LWB-Vizepräsident für Lateinamerika und die Karibik. Foto: LWB/A.Hillert

Nestor Friedrich, LWB-Vizepräsident für Lateinamerika und die Karibik. Foto: LWB/A.Hillert 

Interview mit Nestor Friedrich, LWB-Vizepräsident für die Region Lateinamerika und die Karibik 

(LWI) – Der Lutherische Weltbund (LWB) sei eine Quelle der Inspiration und der Hoffnung in der Welt, sagt Nestor Friedrich, der LWB-Vizepräsident für die Region Lateinamerika und die Karibik. „In dieser Gemeinschaft von Kirchen erfahren wir ein wahrhaftiges Pfingstfest – so jedenfalls habe ich es als Vizepräsident erlebt.“  

„Im LWB betrachten wir unsere unterschiedlichen theologischen Sichtweisen, Kulturen, Sprachen und Arten zu Feiern als Chancen, voneinander zu lernen, und als Ausdruck der Herrschaft, Gnade und bedingungslosen Liebe Gottes.“  

Im folgenden Interview erzählt uns Friedrich, der Pastor der Evangelischen Kirche Lutherischen Bekenntnisses in Brasilien ist, von Momenten aus seiner Zeit als LWB-Vizepräsident, die ihm immer in Erinnerung bleiben werden, und spricht über die Zukunft der Politik in seinem Heimatland und die Verantwortung der Kirche in diesem Kontext.  

Erzählen Sie uns etwas über die religiösen und spirituellen Prägungen Ihrer Kindheit. 

Ich bin in Agudo, Rio Grande do Sul, im Süden Brasiliens geboren. Das ist ein kleiner, sehr freundlicher Ort. Aufgewachsen bin ich in einer traditionell lutherischen Familie. Meine Kindheit und Jugend habe ich auf dem Schulhof verbracht, der gleichzeitig auch der Kirchhof war. Die Berufung, Gott als Pastor zu dienen, war für mich ein langsamer und schleichender Prozess. Mein Vater hatte eine kleine Bibliothek mit vielen Büchern. Dort habe ich eines Tages ein Bilderbuch gefunden, das Geschichten aus der Bibel erzählte. Und zudem hatte ich auch ein besonderes Verhältnis zu unserem Pfarrer vor Ort, Pastor Brauer. Ich glaube, dass der Heilige Geist in meinem Herzen nach und nach eine Leidenschaft für Theologie schuf und formte, und den Wunsch in mir entstehen ließ, Pastor zu werden und dem Volk Gottes zu dienen. Während also die meisten meiner Freunde Finanzbuchhaltung studieren wollten, folgte ich Gottes Ruf und wurde Pfarrer.  

Momentan nimmt die LWB-Delegation an der COP27 in Ägypten teil. Sie haben an der COP25 in Madrid teilgenommen, nicht wahr? Warum ist es so wichtig, dass der LWB an diesen Konferenzen teilnimmt?  

In all den Jahren, in denen ich die Ehre und das Vergnügen hatte, im LWB mitwirken zu dürfen, war die Teilnahme an der UN-Klimakonferenz COP25 ein ganz besonderer Moment. Ich hatte die Ehre, mit einer fantastischen Jugenddelegation vom LWB daran teilzunehmen. Ich habe junge Erwachsene erlebt, die sich bewusst waren, wie dringend notwendig es war, sich für den Klimaschutz einzusetzen, denn der Klimawandel hatte schon damals gravierende Auswirkungen auf unsere Welt. Leider hat sich die Situation nach dieser COP25 verschlechtert und die Welt hat deutliche Rückschritte gemacht. Wir werden auf unserem Planeten eine Erderwärmung von 3,2 °C erreichen. Das allein sollte Grund genug sein, sich weltweit zusammenzuschließen und für Klimagerechtigkeit einzutreten. Aber wir sind taub geworden für das Seufzen und Wehklagen der Erde (Römer 8,22).  

Ein ganz besonderer Moment auf der COP25 in Madrid war die große Demonstration für Klimagerechtigkeit mit Tausenden Teilnehmenden, unter denen auch die Klimaaktivistin Greta Thunberg war. Ich bin überzeugt, dass solche Demonstrationen immer und immer wieder organisiert werden müssen. Wir müssen aus dem virtuellen Raum rauskommen und auf die Straße gehen. Und dafür ist das leidenschaftliche Engagement der jungen Erwachsenen im LWB von grundlegender Bedeutung.  

Welche Hoffnungen haben die Menschen und die Kirche nach der jüngsten polarisierenden Präsidentschaftswahl in Brasilien?  

Wir sind in diese Wahl in Brasilien schon als polarisiertes Volk hineingegangen und auch als polarisiertes Volk herausgekommen –und natürlich zeigt sich diese gesellschaftliche Polarisierung auch in den Kirchen. In der Politik gibt es viele Monologe, es werden Urteile gefällt und es wird verurteilt, es gibt viel Intoleranz und Hetze. Es gibt keinen Dialog zwischen den Parteien. Die Kirche war schon immer mit Herausforderungen und Krisen konfrontiert, aber die Heftigkeit der Krise heute ist beängstigend.  

Lulas Wahl hat bei den Menschen, die sich von dem autoritären Gebaren und der Hetze des scheidenden Präsidenten Jair Bolsonaro und seinen Sympathisierenden eingezwängt und eingeschüchtert gefühlt haben, für ein Gefühl von Erleichterung, von Freiheit gesorgt. Aber Lula und alle, die der nächsten Regierung angehören, haben eine riesengroße Aufgabe vor sich: Sie müssen die öffentliche Ordnung wiederherstellen und für Versöhnung sorgen. Die Erwartungen sind groß und die Probleme immens! Rund 9,5 Millionen Menschen in Brasilien sind arbeitslos und 49 Millionen Menschen leben in gesellschaftlich und wirtschaftlich prekären Lebensumständen. Hinzu kommt noch der Schutz der indigenen Völker, die Beendigung der Abholzung des Amazonasregenwaldes, Abrüstung und Investitionen in Bildung und Forschung, um nur einige wenige zu nennen.  

Als Kirche müssen wir uns um des christlichen Glaubens in Brasilien wegen an den gekreuzigten Christus erinnern. Wir haben hier heute eher einen christlichen Glauben ohne Christus, und das ist Götzendienst. Wir brauchen einen christlichen Glauben, der Hass und Gewalt in keiner Form duldet, einen christlichen Glauben, der nach Versöhnung und Vergebung strebt. Als Kirche müssen wir in Brasilien wieder Vertrauen in einen gemeinsamen Weg schaffen, bei dem es kein „wir und die anderen“ gibt, sondern wir uns alle als Volk Gottes auf dem Weg zum Gottesreich verstehen.  

Was sind aus Ihrem Blickwinkel als LWB-Vizepräsident für die Region Lateinamerika und die Karibik die wichtigsten Aufgaben, mit denen die Menschen in der Region konfrontiert sind?  

Die größte und wichtigste Herausforderung für die Kirchen ist das Thema Nachhaltigkeit. Und dabei geht es um die Finanzen, um qualifizierte Führungspersonen, theologische Ausbildung, strategische Planung, eine neue Ausrichtung des pastoralen, diakonischen, katechetischen und missionarischen Dienstes der Kirche sowie um Themen wie die lutherische Identität, Gendergerechtigkeit und Klimagerechtigkeit. Der Aufschwung einer fundamentalistischen und moralistischen Auslegung der Bibel sorgt für extreme Ausgrenzung. Populistische Regierungen, die Instrumentalisierung der Kirchen und Machoverhalten sind Herausforderungen, die bei uns eigentlich immer auf der Tagesordnung stehen. Aber die Bemühungen der Kirchen in unserer Region, die Mission Gottes umzusetzen, mit der jede einzelne beauftragt ist, sind bewundernswert. Ich schaue voller Hoffnung auf die Arbeit mit jungen Menschen und Frauen in unserer Region.  

Und zum Schluss: Wie sorgen Sie dafür, dass sich die Menschen in Ihrer Region mit dem LWB und der weltweiten Kirchengemeinschaft verbunden fühlen?  

Ich erzähle gerne vom LWB und seiner Geschichte. Sehr oft empfehle ich auch die verschiedenen Publikationen des LWB. Es ist wichtig, den Menschen in der Kirche, den Theologie-Studierenden und den Führungspersonen von der Arbeit der globalen Kirchengemeinschaft zu erzählen. Ich hatte die Ehre, die Arbeit des LWB-Weltdienstes begleiten zu dürfen, und wurde immer wieder daran erinnert, wie positiv dieser das Leben von äußerst verwundbaren und schutzbedürftigen Menschen beeinflusst. Über die Projekte und Programme des LWB zu sprechen und zu berichten, dass auch unsere Kirchen an dieser Arbeit mitwirken, ist sehr wichtig. Aber wir müssen auch immer wieder bekräftigen: Das Gefühl der Zugehörigkeit zum LWB ist keine Einbahnstraße. Ich hoffe, dass die Präsenz der LWB-Regionalreferentin für Lateinamerika und die Karibik, Pfarrerin Sonia Skupch, die inzwischen in der Region vor Ort lebt und arbeitet, dieses Zugehörigkeitsgefühl fördern kann. 

LWB/A. Gray. Deutsche Übersetzung: Andrea Hellfritz, Redaktion: LWB/A. Weyermüller