„Bewusstsein schaffen für globale Gerechtigkeit“

12. Mai 2021
Cornelia Füllkrug-Weitzel bei einer Bootstfahrt auf dem Kongo in der Demokratischen Republik Kongo, 2010. Foto: Christoph Püschner/Brot für die Welt

Cornelia Füllkrug-Weitzel bei einer Bootstfahrt auf dem Kongo in der Demokratischen Republik Kongo, 2010. Foto: Christoph Püschner/Brot für die Welt

Interview mit Cornelia Füllkrug Weitzel, ehemalige Präsidentin von „Brot für die Welt“

GENF, Schweiz (LWI) – Zwanzig Jahre stand Cornelia Füllkrug-Weitzel als Präsidentin dem Hilfswerk der protestantischen Kirchen in Deutschland, „Brot für die Welt“, vor, bevor sie Anfang März 2021 in den Ruhestand verabschiedet wurde. In dieser Zeit prägte sie das Gesicht der Organisation, die zusammen mit ihrem humanitären Arm, der „Diakonie Katastrophenhilfe“, insbesondere in den Bereichen der Menschenrechtsarbeit, der akuten Nothilfe und dem Klimawandel in vielen Projekten eng mit dem Lutherischen Weltbund (LWB) zusammenarbeitet.

Mit der Lutherischen Welt-Information sprach sie über die Veränderungen in der Entwicklungszusammenarbeit, die Auswirkungen der Corona-Pandemie und die wichtige Rolle der Kirchen im Ringen um eine gerechtere Welt.

Sie sind gerade frisch im Ruhestand. Was haben Sie mitgenommen und was haben Sie – vielleicht sogar gerne – zurückgelassen?

Zurückgelassen habe ich sehr gerne jede Art von Gremiensitzungen, die Beschäftigung mit institutionellen Prozessen und Managementaufgaben. Ich kann mich jetzt mehr mit politischen und theologischen Inhalten beschäftigen. Meine Leidenschaft für globale Gerechtigkeit, Frieden und Menschenrechte wird mich weiter bewegen; diese Themen werden mir nicht aus dem Kopf gehen und eine Herzensangelegenheit bleiben.

Haben Sie schon bestimmte Projekte für Ihr Engagement im Blick?

Ein Thema ist der Klimawandel im Sinne der globalen Klimagerechtigkeit. Ein zweites ist die Stärkung der Zivilgesellschaft und der Kampf gegen den schrumpfenden Raum für zivilgesellschaftliches Engagement weltweit. Und das dritte Thema sind Frauenrechte, Women‘s Empowerment und der Kampf gegen sexualisierte Gewalt. Außerdem würde ich mich gern im Bereich Mentoring für junge Frauen als potenzielle ökumenische Führungskräfte engagieren.

Vielleicht werde ich weiterhin zum Thema Corona schreiben. Das Coronavirus wird uns alle ja noch eine Weile beschäftigen. Was macht COVID-19 mit der Zivilgesellschaft, was bedeutet das für die Armen weltweit und was heißt „building back better“ genau?

Wie hat Corona die Not- und Entwicklungshilfe verändert?

Die Pandemie hat, wie ein Brennglas, alle existierenden Ungleichheiten verschärft und Ungerechtigkeiten an den Tag gebracht, über die man bisher hinweggesehen hat.

Wir müssen jetzt analysieren, wie die Weltgemeinschaft in Zukunft besser auf eine Pandemie oder eine ähnliche globale Katastrophe vorbereiten sein kann, damit die Auswirkungen nicht noch einmal so verheerend sind. Derartige Katastrophen treffen arme und marginalisierte Bevölkerungsgruppen am stärksten. Und das muss zusammen gedacht werden mit den Auswirkungen von Klimawandel und globalen Biodiversitätsverlusten.

Kirchen und kirchliche Organisationen sind in allen Ländern ökonomisch sehr geschwächt worden. Fundraising vor Ort ist schwierig und es fließt weniger bilaterale Hilfe. Aber auch die Finanzhilfen für die zivilgesellschaftliche Hilfe im globalen Süden insgesamt ist geschwächt: Staaten geben weniger Mittel für Entwicklungshilfe, Unternehmen investieren weniger, Überweisungen von Migrantinnen und Migranten in die Heimat sind deutlich zurückgegangen, weil sie die ersten waren, die ihre Jobs verloren haben.

Politisch haben viele Regierungen die Corona-Pandemie als Vorwand genutzt, um Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit weiter einzuschränken, zivilgesellschaftlichen Organisationen noch stärker den Geldhahn abzudrehen und sie zu kriminalisieren und zu verfolgen. Ich fürchte, dass weltweit viele zivilgesellschaftliche Organisationen am Ende der Pandemie am Boden liegen werden.

Das hat zugleich die Perspektiven in der Entwicklungszusammenarbeit verändert, denn die Zivilgesellschaft – und dazu gehören auch die Kirchen und Religionsgemeinschaften – sind unverzichtbar für eine Entwicklung, die niemanden zurücklässt.

Wo sehen Sie den besonderen Zugang von kirchlichen und ökumenischen Organisationen?

Kirchen und Religionsgemeinschaften sind basisnah. Sie sind ständig mit den Menschen vor Ort im Gespräch, nicht nur in den Städten, wo sich die meisten NGOs tummeln, sondern auch in sehr entlegenen Gebieten. Sie wissen, was die Menschen brauchen. Auch ohne Hilfe „von außen“ können sie die Menschen mobilisieren und Selbsthilfe und Solidarität organisieren. Ihre Arbeit kann Hoffnung, Überlebenswillen und Resilienz stärken.

Kirchen prägen die gesellschaftlichen Werte – zum Beispiel im Kontext häuslicher Gewalt. Die Kirchen können (und müssen) problematisieren, dass es gesellschaftlich anerkannt ist, Kindern und Frauen in der eigenen Familie körperliche oder sexualisierte Gewalt anzutun. Die Kirchen sollten sich ermutigt fühlen, eine treibende Kraft für Veränderungen zu werden.

Internationale ökumenische Organisationen wie der LWB, das ACT-Bündnis und der ÖRK können die Stimme der Kirchen verstärken. Sie können weiterhin die Stimme erheben, aber nicht, um ihren eigenen institutionellen Interessen Gehör zu verschaffen, sondern den Interessen jener, die unter die Räder geraten sind oder drohen marginalisiert zu werden. Sie können gemeinsam eintreten für das Leben, die Rechte und die Würde Aller.

Es gibt viele, denen die globale Zusammenarbeit der Kirchen im Bereich Entwicklung gerade deshalb ein Dorn im Auge ist, weil wir noch die Rechte und Würde der Menschen in den Mittelpunkt stellen, und nicht irgendwelche Ideologien, Profitinteressen oder rein technologische Lösungen.

Menschen zu stärken und Resilienz zu schaffen sind auch Kernthemen bei der Arbeit mit Gemeinwesen, die vom Klimawandel besonders betroffen sind. Wie kann man Menschen in dieser Situation stärken?

Wenn man von den Medien abgeschnitten in einem entlegenen Gebiet lebt, ist es nicht einfach zu begreifen, dass die Phänomene, unter denen man leidet, mit dem Klimawandel zu tun haben. Die Menschen müssen ihre ganze Lebensweise anpassen, um an diesem Ort zu überleben – dafür müssen sie aber selbst ihre Situation einordnen können.

Einer meiner letzten Besuche vor dem Lockdown führte mich in die Pazifikregion. Dort gibt es Inseln, deren Dörfer vom steigenden Meeresspiegel und von Zyklonen ganz unmittelbar bedroht sind. Für die Menschen dort kommt Maßnahme zur Anpassung an den Klimawandel zu spät, ihnen hilft nur noch Umsiedlung. Die Pazifische Kirchenkonferenz bemüht sich, die Kirchen darin zu bestärken, Fürsprecherinnen und Unterstützerinnen dieser umzusiedelnden Dörfer zu werden, weil die örtlichen Behörden nur sehr wenig für sie tun.

Wie können die Kirchen ganz konkret helfen?

Im Pazifik – um bei diesem Beispiel zu bleiben – genießen die Kirchen in Gesellschaft und Politik hohes Ansehen. Sie können sich dafür stark machen, dass den Dörfern neues Land zugewiesen und die Umsiedlung auf angemessene Weise umgesetzt wird. In den Dörfern können sie die Menschen in dieser Situation ermutigen, die Hoffnung nicht aufzugeben und ihnen im Umsiedlungsprozess beistehen.

Eine erzwungene Umsiedlung löst bei den Betroffenen oft Depressionen aus, denn in der Pazifikregion ist das eigene Land mehr als einfach ein Stück Erde oder eine Einkommensquelle. Es ist das Fundament ihrer Identität und ihres Zusammengehörigkeitsgefühls. Kultur und Spiritualität sind daran gebunden – auch für Christinnen und Christen. Die Kirche könnte z. B. „Übergangsriten“ entwickeln, um den Abschied von den Ahnen, den Abschied von der Mutter Erde zu begleiten, und helfen, auch auf dem neuen Land Gemeinschaft zu konstituieren.

Bei den Umsiedlungen müssen die Kirchen darauf achten und drängen, dass die Umsiedlungspläne die Zukunftsperspektiven aller Bevölkerungsgruppen beachten und einbeziehen – insbesondere auch die der Frauen, die für die Landwirtschaft zuständig sind. Sie haben einen anderen Blick auf die Dinge, aber im Entscheidungsprozess wenig zu sagen. Wenn sie nicht einbezogen werden, kommen viele wichtige Aspekte nicht zum Tragen.

Systematisches „Arm-Machen“

Ist es heute einfacher oder schwieriger, Menschen zu helfen?

Sehr viel schwieriger geworden sind die öffentliche Debatte, die ausufernden Compliance-Anforderungen und die aus der Geschäftswelt übernommenen Systeme. Sie sind nicht auf die Kontexte ausgelegt oder angepasst, in denen wir tätig sind. Wie soll man zum Beispiel belegen, dass man die Zivilgesellschaft gestärkt hat? Die Mobilisierung der Menschen und die Advocacyarbeit kann man so nicht messen.

Andererseits steigen durch diese Auflagen die administrativen Kosten und in der Folge reduziert sich die Hilfe, die tatsächlich bei den Menschen ankommt. Das ist genau das Gegenteil von dem, was unsere Spenderinnen und Spender wollen!

In der öffentlichen Debatte wird Entwicklungszusammenarbeit systematisch schlecht geredet. Sie habe ja nicht genug bewirkt. Aber die Tatsache, dass es zu wenig Fortschritt in der Armuts- und Hungerbekämpfung gibt, hat wesentlich damit zu tun, dass unser Wirtschaften im globalen Norden den Ländern im globalen Süden über Jahrzehnte Ressourcen entzogen hat und weiterhin entzieht. Der Klimawandel ist das jüngste Beispiel dafür! Die Entwicklungszusammenarbeit arbeitet seit 30-40 Jahren gegen einen systematischen Prozess des Arm-Machens.

Gerade in der humanitären Hilfe schreiben nationale Regierungen in den betroffenen Ländern zunehmend vor, wem und wo Hilfsorganisationen helfen dürfen. Wie gehen Sie damit um?

Wir sind nicht vor Ort, das unterscheidet uns vom LWB. Internationale Helferinnen und Helfer kann man dadurch stoppen, dass man ihnen keine Visa erteilt oder sie des Landes verweist. Lokale Organisationen auf derartige Weise zu kontrollieren, ist deutlich schwieriger. Wir arbeiten daher mit Partnern zusammen, die vor Ort sind, wie z. B. dem LWB.

Genau wie der LWB halten wir uns an die Grundprinzipien der humanitären Hilfe. Eines dieser Prinzipien ist die Unparteilichkeit, die allerdings keineswegs überall praktisch gegeben ist. In Syrien beispielsweise ist der Zugang zur Bevölkerung immer durch die Sicherheitslage bestimmt und durch Einschränkungen der Bewegungsfreiheit durch die Regierung. In einer solchen Situation ist es schwer, Partner zu unterstützen, die in umkämpften oder gesperrten Gebieten unterwegs sind. Wenn, dann setzt das sehr großes Vertrauen in diese lokalen Partner voraus und man muss ungewöhnliche Wege gehen, wenn man allen Notleidenden helfen will.

COVID-19 hat auch die Kirchen im globalen Norden hart getroffen. Viele Gemeinden leiden unter Einkommenseinbußen, weil Kollekten und Veranstaltungen weggefallen sind. Kirchenmitglieder haben ihre Arbeit verloren. Wie erklären Sie diesen Gemeinden und Menschen, dass sie weiter für Entwicklungshilfe in anderen Ländern spenden sollten?

Auch in Deutschland sind viele Menschen im letzten Jahr in die Armut abgerutscht. Und das nehme ich sehr ernst. Dennoch denke ich, dass es für uns Christinnen und Christen keine große Rolle spielen sollte, ob unsere Nächsten in der Nachbarschaft leben oder in fernen Ländern. Wir sind ein Glied im einen Leib Christi und als solches haben wir teil an Freud und Leid aller Glieder weltweit.

Viele Spendende sind schon im Ruhestand. Sie hatten keine Einkommenseinbußen, sondern haben vielleicht sogar Geld gespart, weil sie zum Beispiel nicht ins Restaurant gehen oder kulturelle Veranstaltungen besuchen konnten. Es sind also auch Ressourcen freigeworden und man kann drüber nachdenken, wofür man die ausgeben will.

Wir müssen uns auch bewusst machen, wie gut es uns im Vergleich zu anderen geht. Bei einem Seminar kürzlich gab es zum Beispiel eine Arbeitsgruppe zum Thema Impfgerechtigkeit. Die Studierenden dachten, es würde darum gehen, dass ihre Oma jetzt geimpft wird, sie selbst aber nicht. Während des Seminars haben sie erst verstanden, welche globalen Dimensionen das Thema hat. Hinterher wollten sie dann nicht mehr fordern, dass Deutschland mehr Impfdosen bekommt.

Das ist unsere Aufgabe als Hilfswerke und Kirchen: mehr Bewusstsein zu schaffen für die globale Dimension von Gerechtigkeit.

Brot für die Welt ist das diakonische Hilfswerk der evangelischen Kirchen in Deutschland für die weltweite Entwicklungszusammenarbeit. Brot für die Welt unterstützt dauerhaft mehr als 1.500 Projekte in Afrika, Asien, Lateinamerika und Europa. Der LWB ist ein Implementierungspartner vor Ort. Brot für die Welt unterstützt Projekte des LWB mit den Schwerpunkten Menschenrechte, Landrechte, Frieden, Anpassung an den Klimawandel und die Rechte von Frauen und Mädchen.

Von: LWB/C. Kästner