„Being Lutheran“: Priestertum aller Getauften

11. Nov. 2020
Pfarrerin Caroline Christopher von der Lutherischen Kirche Arcot (Indien). Foto: LWB/Albin Hillert

Pfarrerin Caroline Christopher von der Lutherischen Kirche Arcot (Indien). Foto: LWB/Albin Hillert

Die Lehre von der „Demokratisierung des Heiligen Geistes“ im multireligiösen Kontext Indiens

GENF, Schweiz (LWI) – Was bedeutet es für Christinnen und Christen in modernen säkularisierten oder multireligiösen Gesellschaften, an das „Priestertum aller Getauften“ zu glauben? In welchem Verhältnis steht diese Lehre, die vor einem halben Jahrtausend das Fundament des reformatorischen Denkens bildete, zu heutigen Formen der Beziehung von Kirche und Staat? Wie leben Lutheranerinnen und Lutheraner in der Praxis diese Berufung zur Heiligkeit, wie beteiligen sie sich an Gottes Mission der Versöhnung in einer zunehmend von Polarisierung geprägten Welt?

Mit diesen und ähnlichen Fragen befasste sich das fünfte „Being Lutheran“-Webinar am 4. November. Die monatliche Webinar-Reihe bietet Theologinnen, Theologen und weiteren Mitwirkenden am aktuellen Studienprozess zu lutherischen Identitäten in der Welt von heute Gelegenheit, diesen voranzutreiben. Moderiert wurde die Online-Veranstaltung von Chad Rimmer, Programmreferent für Identität, Gemeinschaft und Bildung beim Lutherischen Weltbund.

Pfarrerin Caroline Christopher von der Lutherischen Kirche Arcot (Indien) referierte über die tiefgreifende Wirkung, die die Lehre vom Priestertum aller Getauften in den Anfängen der lutherischen Indien-Mission im 18. Jahrhundert entfaltete. Angesichts des strengen Kastensystems, das mit einer starren sozialen Schichtung einherging, hinterfragte die demokratisierend wirkende lutherische Lehre die religiöse Identität der brahmanischen Kaste – die die Priester und Lehrer des Hinduismus stellt – und die soziopolitischen Strukturen, die seit Urzeiten das Leben und die wirtschaftliche Existenz der Menschen prägten.

Auswirkungen auf das traditionelle Kastensystem

Insbesondere veränderte die reformatorische Arbeit das Leben der am stärksten benachteiligten Bevölkerungsgruppe der ehemals als „unberührbar“ bezeichneten Dalits, die außerhalb des traditionellen Kastensystems stehen, führte Christopher aus. Den meisten Dalits und Adivasi, also den indigenen Minderheiten Indiens, wird bis heute „alles vorenthalten“, so die Referentin – medizinische Versorgung, Bildung, politische Beteiligung sowie die Teilhabe am religiösen Leben.

Christopher erläuterte, die frühen Missionare wollten, neben dem neuen Glauben, dass alle Getauften direkten Zugang zur Barmherzigkeit Gottes haben und keine Priester als Vermittler brauchen, auch „Gerechtigkeit bringen“. „Mithilfe von Geschichten und Liedern lehrten sie die Ungebildeten die Bibel“ und dieses Engagement, das die Emanzipation der Dalits und anderer armgemachter Bevölkerungsgruppen bewirke, setze sich bis heute „in Kirche und Gesellschaft“ fort. Die Arbeit der christlichen Kirchen an der Seite der Indigenen sehe sich aktuell zunehmenden Angriffen vonseiten führender Hindus ausgesetzt, die sich an die Spitze einer Bewegung gesetzt hätten, die die Menschen „dazu bewegen will, zur Mutterreligion zurückzukehren“.

Die Referentin berichtete, heute seien 90 Prozent der indischen Lutheranerinnen und Lutheraner Dalits. Trotzdem stoße das Engagement für eine echte „Demokratisierung des Heiligen Geistes“ auch innerkirchlich bei jenen Kräften auf Widerstand, die sich nach einem starreren hierarchischen System zurücksehnten. In der Lutherischen Kirche Arcot, der sie angehöre, stünden die Teams, die in benachteiligte Dörfer reisen, um ihnen die Botschaft des Evangeliums weiterzugeben, oft unter der Leitung von Nichtordinierten. Es gebe jedoch auch anderen Kirchen, „die nicht zulassen, dass Laiinnen und Laien Verantwortung übernehmen.“

Spiritualität und prophetischer Dienst

Vor dem Hintergrund einer Kultur, in der der Umgang mit Frauen nach wie vor von bestimmten Vorstellungen von Reinheit und Unreinheit geprägt sei, schlössen in Indien auch zahlreiche Kirchen Frauen vom Amt des Wortes und Sakramentes aus, berichtete Christopher. Aktuell gebe es eine „große Debatte” in allen Religionsgemeinschaften Indiens. Das politische Ringen und die wissenschaftliche Arbeit von Frauen zeitigten erste Erfolge, „aber es liegt noch ein weiter Weg vor uns.“

Vor eine weitere Herausforderung stelle die lutherischen Kirchen in Indien und anderswo heute die Meinung, wahre Heiligkeit aller Glaubenden sein nur bei den Evangelikalen zu finden. Den traditionellen Kirchen werde vorgeworfen, es mangele ihnen an Spiritualität, räumte die Referentin ein. Es sei eine große Herausforderung, den Menschen zu helfen, „die eigenen spirituellen Gaben zu entdecken“.

Christopher berichtete weiter von ihrer Arbeit als Leiterin eines großen Wohnheims in Chennai, das vielen Waisen, alleinstehenden Müttern und mittellosen Frauen unterschiedlicher Religion Zuflucht und Sicherheit biete. In der Diskussionsrunde im Anschluss an ihr Referat tauschten sich die Teilnehmenden über die Bedeutung einer solchen „prophetischen Diakonie“ aus, die Markenzeichen des lutherischen Zeugnisses in säkularisierten oder multireligiösen Gesellschaften sei.

Weiter wurde festgestellt, vom Glauben getragene Taten der Liebe im Alltag seien für viele die einzige Art und Weise, wie sie der Kirche überhaupt begegneten. Rimmer stellte fest: „Das Priestertum der Getauften ist eine radikale Idee, die unser Verständnis von Macht umdeutet und uns bevollmächtigt, daran mitzuarbeiten, dass Wandel möglich wird. In dieser Formel steckt die Aussage: egal was dein Beruf ist oder wofür du im Leben brennst, der Geist rüstet dich zu, die Liebe Christi in jedem Gesellschaftsbereich weiterzugeben.“

Abschließend erklärte Rimmer: „Dieses Webinar fand auf den Tag genau 500 Jahre nach der Veröffentlichung von Luthers Schrift ‚Von der Freiheit eines Christenmenschen‘ statt. Sie beschreibt Gottes Liebe als Geschenk, das uns von den Banden des Unrechts befreit, und als Anruf, der uns nötigt, unseren Nächsten auf den Ebenen von Wirtschaft, Gesellschaft, Religion, Politik und, ich möchte hinzufügen, Ökologie zu dienen.“